Dreigestirn

Die letzte Jagd



Maximilian    hatte    so    viele    Jagdgäste    zu    führen,    dass    für    uns    einige    Tage    reines Sightseeing   auf   dem   Programm   stand.   Doch   dann   war   es   endlich   so   weit:   Mein    Bock   war an   der   Reihe.   Was   das   Schießen   anbetraf,   war   ich   etwas   aus   der   Übung,   denn   zu   Hause ging   ich   seit   einiger   Zeit   nicht   mehr   zur   Jagd.   Außerdem   führte   ich   die   Waffe   meines Freundes   und   da   musste   ich   mich   wieder   auf   eine   unpassende   Schaftlänge   einstellen. Also   Probeschießen,   durch   Munitionswechsel   zusätzlich   erforderlich   geworden.   Danach meinte ich, nun aber endlich gerüstet zu sein.
Es   war   Mai   und   wir   saßen   an   einem   Waldrand   im   Auto,   vor   uns   eine  zumeist mit   Gras   und   Ginsterbüschen   bewachsene   Fläche.   Im Hintergrund schloss sich Wald an, denn im   Revier   meines   Freundes   gab   es tatsächlich   bewaldete    Teile,    nicht    nur    die  übliche offene    Landschaft    mit    schier unendlichen     Heideflächen,     durchzogen     von     Grabenbrüchen     oder     einfachem Weideland.   Was   es   nicht   gab,   waren   Ansitzleitern   oder   Kanzeln. Man pirschte, sprich „stalkte“, oder setzte sich ebenerdig an.

Es    herrschte   Stille,    wirkliche Stille. Nur ganz   sachte   säuselte   der   Wind   durch   die   Ginsterbüsche,   gelegentlich vernahm   ich   von   fern   den   Schrei   eines   Fasans   oder   das   Bellen   eines   Hundes   von   einem der   wenigen,   weit   auseinanderliegenden   Cottages.   Kein   einziges Auto-      oder      Motorengeräusch,      kein      Flugzeug      hoch      oben      am      Himmel,      keine Menschenstimmen.   
Maximilian   war   schrecklich   müde,   denn   er   hatte   Tag   für   Tag   viele  sehr  anspruchsvolle Gäste   geführt,   befand   sich   zudem   nicht   gerade   in   bester   gesundheitlicher   Verfassung. Auch   bei   früheren   Jagden   hatten   wir   schon   des   öfteren   das   Auto   zum   Ansitzen   benutzt, waren   mal   in   dieses,   mal   in   jenes   entlegenere   Teil   des   Estates   gefahren und hatten „geglast“.   Die   Ausdehnung seines   angepachteten   Rehwildrevieres   war   immens.    Früher    hatte    Maximilian    in    ganz    Schottland    und England   Reviere   gepachtet,   um   alle   Jagdarten   auf   viele   Wildarten   anbieten   zu können.   Diese   Zeiten   waren   vorüber.   Er   schaffte   es   gesundheitlich   und,   wie   ich   erst nach   seinem   Tod   erfuhr,   es auch   finanziell   nicht   mehr.  
Bei   unseren   Pirschfahrten   hielten wir   immer wieder  an,   stiegen   aus   und   glasten   die   Flächen   vermittels   Spektiv   oder   Fernglas   ab, um uns bei Anblick zumeist kilometerweit an das entdeckte Wild heranzupirschen. Einmal   im   Frühjahr   waren   wir   am   zeitigen   Morgen   zur   Jagd   aufgebrochen.   Ich   hatte   mich mit   dem   Wetter   kleidungsmäßig   verschätzt   und   arg   gefroren.   Von   da   an   wusste   ich übrigens,   was Jagen in Schottland heißt.
Im    Auto    war    es    freilich gemütlicher,    zumindest    für    Max    an diesem    Abend,    und    ich    stellte    fest,    dass    Ruhe    und Wärme   meinen   Freund   rasch   zum   Einschlafen   brachten.   Doch   da   sah   ich,   wie   von   links   ein   Bock   auf   den Schlag   zog.   Er   bummelte,   ließ   sich   Zeit,   war   vertraut und    naschte    nur    hier    und    da    von   den    Kräutern.    Vom Habitus   und   der   Trophäe   her   war   es   ein   junger und  schwacher Bock.     Schottland     besitzt   sonst  wirklich sehr starke   Böcke.  Genau die muss man sich aber auch erst leisten können. Bei mir nicht drin. Max und ich hielten uns sehr genau an "geschäftliche Regeln". Ich arbeitete in Deutschland für ihn, ließ mir die Gebühren "gutschreiben" und jagte sie ab. Gewohnt habe ich in seinen Cottages, kostenlos. Wir waren befreundet. Und so konnte ich mir dieses Land selbst öfter mal "leisten".
Ich   puffte   meinen  Freund   in   die   Seite.  Der   war   sofort   hellwach.   Leise   stieg   ich   aus   dem   Auto,   die Tür   war   nur   angelehnt   gewesen.   Max   schaute   ganz   kurz durchs   Glas   und   bestätigte   mir   mit   einem   Nicken,   dass   ich den    Bock    aufs    Korn    nehmen    sollte.    Ich    stützte    die Ellbogen   auf   die   Motorhaube,   zielte   und   schoss.   Der Bock   machte   einen   kurzen   Satz   nach   vorn...   und   stand   wo er   stand.   Dann   kam   es   ihm   wohl   unheimlich   vor,   denn schon   im   Moment   darauf   war   er   in   kurzen   Sätzen   auf   und davon.
Und was war jetzt das?
                                                   






 „Ihr   seid   mir   Jäger!“   knurrte   Max   mürrisch,   gemeint   waren   wohl   in dem   Augenblick   alle   am   Wild   vorbeischießenden   Gäste,   und:   „Der stand   doch   gut!“   Damit   war   die   Entfernung   von   maximal   80   Metern und   dessen   geringe   Bewegung   gemeint.   Max   war   echt   nicht gut   drauf,   entweder   nur   müde   oder   wirklich   sauer,   dass   ich   nicht getroffen   hatte.   
Ich   empfand   es   als   ungerecht,   denn   so   etwas   war   mir hier    bei    ihm    das    erste    mal    passiert.    Ich    musste    den    Bock    glatt überschossen   haben,   denn   Max   meinte   noch,   dass   er   die   Erde   weit hinter   ihm   habe   stieben   sehen.   Max'   Miene   und   weitere,   nicht   gerade lobende,   Worte,   drückten   meine   Stimmung   auf   den   Nullpunkt.   Ich sollte   die   gesamte  Jägerei   in   die   Tonne   treten,   dachte   ich,   gibt   doch   nur   Ärger   drumherum. Die   letzten   Jahre   in Deutschland   und   hier   nun   auch.   Jagd   sollte   Freude   machen   und nicht  Stress   werden.   Wie   entspannt   waren   da   doch   die   Jagden   mit   meinem   verstorbenen Förster gewesen - und eigentlich die früheren mit Max genauso.
Heute    weiß    ich,    dass    Max   einfach unter zeitlichem Druck stand und deswegen so  übel  gelaunt war, als ich vorbeischoss. Es hätte    für    ihn bedeutet,    mich    trotz    der    vielen    anstehenden  Gäste    noch    weiterhin    auf meinen    Erfolg    führen    zu    müssen.    Die    Zeit    rannte    ihm  aber davon. Er   war   öfter   krank und auf   diese   "gut betuchten"   Gäste angewiesen, hätte also nichts verschieben können.  Ein bisschn was hatte ich davon bemerkt, nur konnte ich  dafür nichts und wäre  in  diesem   Moment   am liebsten zur    Cottage    zurückgefahren,    doch    Max    stieg    aus,    holte    seinen Rucksack    aus    dem    Kofferraum,    legte    ihn    auf    das    Autodach    und flüsterte,   ich   solle   doch   mal   schauen,   ob   ich   von   dort   aus   mit   dem Gewehr    besser    klar    käme.    Ich    legte    auf...    und    konnte    nicht    mal durch‘s   Zielfernrohr   blicken.   Zu kurz   geraten – ich.  Auf   Zehenspitzen   stehend   ging   es   gerade   mal   so.   Aber so   verkrampft  machte   das keinen   Sinn.   Max   lachte   darüber,   was   meine   eigene   Laune nicht   gerade   aufbesserte.   Er   öffnete   noch   einmal   den   Kofferraum und   holte   eine   Holzstiege   heraus.   Von   diesem   erhöhten   Stand   aus ging es tatsächlich. Max   stieg   wieder   ins   Auto,   ließ   sich   ächzend   auf   den   Sitz   fallen   und schloss   binnen   Minuten   erneut   die   Augen.  
Na,   der   hat   ja   ein   Gemüt, dachte   ich   und  darüber nach,   weswegen   ich   wohl   den Bock   überschossen   hatte.   Und   da   fiel   mir   ein,   dass   die   Waffen   von Max   immer   auf   mindestens   150   Meter   eingeschossen   wurden, meine eigenen daheim  nur auf eine  100m-Distanz.     Nun     hatte     ich    möglicherweise die Ursache gefunden.   Es   reichte   ein   leicht   zu   hohes   Abkommen   und   schon   ist das Wild überschossen.  Allerdings   allemal   besser,   das   Wild   erschrickt   nur,   weil   ihm   die   Kugel um    die    Ohren    pfeift,    als    weidwund    abzugehen.   
Dennoch,    mein Selbstvertrauen    war    angeknackst.    Hoffentlich    kommt    nichts    mehr, dachte   ich   sogar,   aber   da   tauchte   doch   tatsächlich   der   nächste   Bock an   genau   der   gleichen   Stelle   am   Schlag   auf.   Wieder machte     ich     Max     munter,     diesmal     unsanfter,     da     er     doch     fest eingenickt   war.   Und   schon   stand   ich   draußen   auf   meiner   Kiste.   Der Bock   wechselte   fast   bis   zur   Mitte   des   Schlages,   war   mal   kurz   in   eine der      Senken      oder      zwischen      den      in      voller      Blüte      stehenden Ginsterbüschen    verschwunden,    dann    knallte    es    auch    schon.    Ich zitterte    vor    lauter    Jagdfieber,    was    mich    nach    fast    jedem    Schuss ziemlich   heftig   überfiel.   Wo   genau   er   lag,   konnte   man   von   uns   aus nicht   erkennen.   Dass   er   lag   war   sicher.   So   sah   es   wohl   auch   Max, denn    er    machte    es    sich    erneut    auf    seinem    Autositz    bequem.    Ich glaube   mich   zu   erinnern,   dass   er   sogar   sitzen   blieb,   als   auch   noch   der dritte  Bock   auf   dem   Schlag   erschien.   Auch   dieser   wurde   von   mir,   von meiner   Kiste   aus,   auf   die   Decke   gelegt. 

 





Vielleicht   eine   halbe   Stunde später,   Max   wollte   noch nicht   nach   Hause, der Tag war ja für mich geplant und er hatte nach dem Erfolg alle Ruhe der Welt, kam   der   anfangs   verfehlte   Bock   tatsächlich   erneut  auf die Fläche gezogen.   Und diesmal   blieb er nicht lebendig.  Erst    danach    suchten    Max    und    ich    die    drei    Böcke    im    stellenweise dichten   Bewuchs.   Sie   lagen,   wo   ich   sie   getroffen   hatte.  

Max   war  jetzt von hervorragender   Stimmung.  Drei   Böcke   an   einem   Abend... Mir fehlte es irgendwie an Flair. Das war Handwerk, Sitzen,     Abwarten und „totschießen“. Für ihn zählte  das  Ergebnis. Für  mich taugte   die   Jagd  aber schon immer nur   dann,   wenn  es spannend war und etwas Besonderes. Und    das    war es   an diesem   Abend    nicht.    War früher  anders gewesen und nicht üblich für Max. Er äußerte am Telefon aber zuvor schon immer häufiger, wie sehr ihn diese Veränderungen in der Jagd belasten. Nicht die in Schottland, sondern in Deutschland, woher die meisten Gäste kamen. Es seien "keine Jäger mehr", gemeint,  wie er sie von früher her kennt. Besserwisser, arrogant. Nichts drauf, wenig Fachkenntnis, aber die Größten und immense Wünsche. Hätten nicht mal Großindustrielle namens Flick drauf gehabt, die er in weiter zurückliegenden Jahren führte. 
Wären    wir    nach    meinem    Fehlschuss gleich    abgefahren,    hätte    ich    meine    Zeit    als    Jägerin  mit   ungutem   Gefühl   im   Bauch   beendet.   Es sollte  nämlich    meine    letzte Jagd gewesen sein,    was    ich damals  noch   nicht   wusste.  Ich   besuchte   ihn   natürlich auch   später   nochmal,   ohne zu   jagen.   Max   war  wirklich  sehr   krank   geworden.   Stalker   zu   bezahlen   war   ihm   auch  nur noch begrenzt   möglich und so wurden  Jagdgäste  selten.   Nur   wenige   Monate   nach  dem letzten Besuch ist er verstorben. Damals gab es nach den erlegten Böcken noch tolle Stunden im Pub, gemeinsam mit einem weiteren Jäger. Das war dann "dieses Flair", das Besondere, was zwar mit der Jagd auf die Böcke nicht direkt zu tun hatte, aber insgesamt blieb diese Zeit und die Jagd als etwas Schönes haften.

ENDE
Text und Fotos © Hildruth Sommer