Hirschfieber

Zur Brunft im Rotwildrevier

Seit über einem Jahr durfte ich, nach mehrjähriger Wartezeit, endlich als Lehrling in einer der Jagdgruppen erfahrene Jäger zur Jagd begleiten. Das Rotwildrevier meines Mentors und Försters war und blieb aber für mich das Paradies schlechthin. Ich nutzte viel freie Zeit für meine Beobachtungen. Selbst die Familienspaziergänge fanden häufig in diesem Gebiet statt, welches nicht mal eine halbe Autostunde vom Wohnort entfernt lag. Fährtenlesen und das Üben hinsichtlich hirschgerechter Zeichen war hier leicht gemacht. Wollte ich nach der Arbeit entspannen, setzte ich mich kurzerhand in meinen Trabbi und fuhr hinaus. Die guten Plätze zum Beobachten kannte ich.
Die schönste Zeit des Jahres in diesem Gebiet kam für mich stets ab Mitte September. Allerdings wurde dann auch der Bevölkerung der Zutritt für ganze Revierteile untersagt. Wenn die Rotwildbrunft begann, ließen sich dort besonders viele "hohe" Jagdgäste blicken. Was man damals eben als "hoch" bezeichnete...
Ich saß stundenlang in der Nacht am Rande einer über dem Revier gelegenen, ruhigen Strasse. Von hier aus konnte ich gut sie gut verhören, störte gleichzeitig niemanden und bekam keinen Ärger. Was ich zu hören bekam, war überwältigend. Zur Hochbrunftzeit startete das vielstimmige Konzert "suchender" oder „besitzender“ Hirsche bereits in den frühen Abendstunden und ebbte auch tagsüber nicht ganz ab. Wie gern wäre ich zu diesen Stunden auf Ansitz inmitten des Geschehens gewesen. Hautnah dran.... ein Traum, und lange blieb es einer, bis ich mir eines Tages ein Herz fasste und eben diesen Förster fragte, ob er mich mal mit auf Ansitz nehmen würde. Nur ein Mal... Ich wusste ja, dass es auch ihm untersagt war.
Die Zusage kam unverhofft bald, gleich nach dem darauf folgenden Wochenende.




An einem Dienstag, es war der 19. September, packte ich nachmittags den Rucksack. Viel brauchte ich nicht zu verstauen. Ausser Schnitten und etwas zu Trinken nahm ich den Fotoapparat mit. Ich erschien natürlich vorfristig am vereinbarten Treffpunkt und hob vor Aufregung fast ab. Zu meinem Erstaunen trug auch der Förster nur seine Fotoausrüstung bei sich. Auf meine Frage nach dem Gewehr antwortete er lächelnd: „Du willst doch etwas erleben und sehen, oder? Wenn ich schieße ist ja alles vorbei.“ So war er...
Das Fahrzeug blieb am Waldrand stehen. Es war ein ruhiger, fast windstiller Spätnachmittag. Wir liefen das letzte Stück bis zu einer geschlossenen Kanzel, die am oberen, rechten Rand einer Altholzfläche stand. Bereits beim Anlaufen sahen wir ein Kahlwildrudel durchs Stangenholz ziehen. Derartige Anblicke, selbst in den Nachmittagsstunden, waren hier nicht selten. Ihre Unruhe rührte jedoch scheinbar von einem Radfahrer her, der uns auf dem Anmarsch zur Kanzel kurz darauf begegnete.
Nach dem Aufbaumen versuchte ich mich zu orientieren. Ich stellte fest, dass wir uns genau vis-á-vis der Strasse befanden, auf der ich sonst meine abendlichen oder nächtlichen Standorte innehatte. In gebührender Entfernung natürlich, denn zwischen uns und der besagten Strasse lag ein wunderschönes Tal mit einem kleinen Bach in seiner Mitte. Unsere Kanzel befand sich im oberen Teil eines Hanges, linkerhand das offene Altholz, rechts bis fast hinunter ins Tal ein breiter Streifen Fichtenkultur, rechtsseitig begrenzt von Stangenholz. Den Einblick ins Tal versperrten hohe Fichten und Buchen, die am Rande eines Weges standen, der etwa hundert Meter unter unserem Ansitz verlief und die untere Grenze der Kulturfläche bildete. Ich wusste von meinen Spaziergängen her, wie das Tal unterhalb dieses Weges ausschaute. Es war auf der dem Weg gegenüberliegenden Seite durch stellenweise hohe Felsgruppen und steile Hänge von der übrigen, lauten Welt abgeschottet. Ganz oben verlief die Straße. In meiner Vorstellung hörte ich den kleinen Bach plätschern, der die Idylle darin jedes Mal vollständig machte. Schmal, malerisch und friedvoll war es, mit kurzen Worten beschrieben. Später sollte ich genau dort, oben auf den Felsen, den Beginn einens Orkans erleben. Obwohl angekündigt war ich damals draußen, allerdings, bevor es so richtig zur Sache gehen sollte. Ich stand auf einem der Felsen, als sich die unterhalb davon wurzelnden Bäume mit ihren Kronen bis zu mir rüberschwangen. Kein gutes Gefühl... echt nicht. Sie kamen mir bedenklich nahe, es krachte und splitterte Holz und so nahm ich die Beine in die Hand, um schnellstens aus dem Wald zu kommen. Derartige verrückte Dinge hatte ich allerdings öfter drauf.


Dieses Video kann man durchaus auch mal im Vollbild betrachten.

Noch voll in Gedanken versunken, ließ mich ein Knören zusammenzucken. Gleichzeitig verspürte ich einen Stoß in meiner Seite. Ich blickte den Förster an, der mir mit Zeichen zu verstehen gab, dass ich durch das vordere Fenster schauen sollte. Und da standen sie: ein toller Bursche von einem Rothirsch und mehrere Stück Kahlwild. Ich hatte deren Heranziehen nicht mal bemerkt, obgleich sie sich in dem Augenblick nur etwa zwanzig Meter vor der Kanzel befanden. Vor lauter Staunen hielt ich die Luft an. Ein Vierzehnender war es. Sein Harem bestand aus zwei Alttieren mit ihren Kälbern und zwei Schmaltieren. Doch da gesellte sich sogar noch ein Zwölfender hinzu. Und nun beobachtete ich in unmittelbarer Nähe, was ich bis dahin nur aus Filmen kannte. Während das Kahlwild ruhig äsend vor der Kanzel stand, als ginge sie das Geschehen nichts an, war der Starke ständig in Bewegung. Sichtlich erregt beobachtete er den zweiten Hirsch, der sich jedoch in gebührendem Abstand aufhielt. Der Starke reckte sich drohend und in voller Größe auf, öffnete seinen Äser und schrie aus vollem Hals. Die ungewohnte Lautstärke in derart geringer Entfernung ließ mich zusammenschrecken. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Es war ein solch herrliches Gefühl, was sicher nur der verstehen kann, der irgendwann Ähnliches erlebte. Erstaunen, Aufregung und Bewunderung zu gleicher Zeit.
Der andere Hirsch kam nun dem Rudel immer näher. Würde der Platzhirsch die Herausforderung annehmen und ich eine spannende Kampfszene beobachten können? Das Krachen von Geweihen kämpfender Hirsche hatte ich früher bereits gehört, doch zuzusehen war mir bislang noch nicht vergönnt. Ich wagte es, meine Hoffnung als Frage leise an meinen Begleiter zu richten.
"Nein, das glaube ich nicht", flüsterte der zurück.
Die Hirsche standen nun bereits ziemlich dicht beieinander. Scheinbar hochkonzentriert zogen sie im Parallelmarsch nebeneinander ein Stück ins Altholz hinein, wendeten und kamen gleichermaßen zum Rudel zurück. Der Starke blieb stehen, während der Zwölfender sich nun zu meinem Erstaunen einfach so trollte und nach wenigen Augenblicken im Stangenholzgewirr verschwunden war.
Hm, das war's also, leichte Enttäuschung meinerseits... Der Starke schickte ihm aber noch einen mächtigen Siegesruf hinterher, um dann wieder unruhig in der Nähe des Rudels zu kreisen. Ein Alttier warf auf. Hatte es die leisen Erklärungen des Försters an mich vernommen? Immerhin hielten wir alle drei Kanzelfenster geöffnet. Das unruhig gewordene Alttier führte nun das Rudel die Kultur hinab in Richtung Tal, und bald waren alle unseren Blicken entschwunden.
Ich holte tief Luft, denn jetzt erst wich die Anspannung. Der Förster lächelte. Er schien meine Aufregung bemerkt zu haben. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war kurz vor 18.00 Uhr und noch eine zeitlang bestes Licht zu erwarten. Mein Blick wanderte rechts zum Hang hinauf. War das nicht ein Geweih, was über einer kleinen Fichte dort oben zu sehen war? Oder doch nur Gewirr trockener Äste? Nein, es bewegte sich. Sekunden danach stand auf einem kleinen Hügel ein mächtiger Recke. Oh, war das ein Anblick!




Einen Moment lang verhoffte der Hirsch dort oben, dann setzte er sich langsam hangabwärts in Bewegung. Ich machte meinen Begleiter auf ihn aufmerksam. Ein Blick vom Förster durchs Fenster meiner Seite, ich mußte mich dabei mächtig in die Ecke quetschen, und dann flüsterte er, wir sollten besser die Plätze tauschen, der käme sicher auf der linken Seite im Altholz herabgezogen. Gesagt, getan. Und da war er auch schon... links von mir. Erneut ein Vierzehnender. Der Förster bestätigte und fragte mich leise nach dessen vermutlichem Alter. Ojeh! Ich suchte nach erlernten Ansprachemerkmalen, versuchte mein bisher angelesenes Wissen im Kopf zu ordnen und vertippte mich natürlich nach oben.
"Zehn bis zwölf Jahre?"
Der Förster schüttelte den Kopf. "Maximal acht", sagte er. "Aber sehr stark."
Der Kapitale verhoffte an einer Gruppe junger Anflugfichten, schrie mehrmals und bearbeitete zwischendurch eine junge Fichte derart heftig mit seinem Geweih, daß die Zweige in Fetzen davonflogen. Obwohl er keine Antwort durch einen anderen Hirsch erhielt, erschien mir sein ganzes Verhalten gereizt. Nun forkelte er den Waldboden und plätzte mit den Vorderläufen. Wimpelschlagen live erlebt, wow. Ruckartig stand er still, als ob er lauschen würde. Tief unten in Talnähe vernahmen wir das Röhren eines weiteren Hirsches. Antwortend oder suchend? Ich war viel zu aufgeregt, um darüber länger nachzudenken. Ich hörte nur noch und genoss dieses Bild des stattlichen Hirsches in unserer Nähe. Manchmal öffnete er seinen Äser, als wolle er schreien, doch kam kein Laut aus seinem Hals.



Entfernt im Tal meldeten nun abwechselnd zwei Hirsche. Ouuaahh.... Unser Hirsch neben der Kanzel röhrte noch einige Male gewaltig und zog dann im Altholz abwärts. Ruhe trat ein. Es wurde dämmrig. Und da fiel mir ein, daß ich zwar den Fotoapparat mitgenommen, aber kein einziges Bild von dieser herrlichen Szenerie "geschossen" hatte. Das würde mir  heute garantiert nicht mehr passieren, damals halt doch. Mein Förster hatte aber auch nicht...
"Weshalb hast du kein Foto gemacht?" fragte ich ihn.
"Nicht dran gedacht. Ich habe ja auch schon so viele und noch oft Gelegenheit. Aber du hättest ruhig knipsen können", sagte der Förster.
"Vergessen, glatt vergessen", so ich.
 Ja, es war ein tolles Erlebnis für mich gewesen. Ich hatte nur geschaut und gestaunt. Was soll's? Die Bilder waren nun fest im Kopf. Wir saßen noch eine zeitlang auf der Kanzel, unterhielten uns flüsternd über Rotwild. Mein Begleiter erzählte Jagdbegebenheiten, beantwortete Fragen. Es war dunkel geworden. In Talnähe vernahmen wir wütende Schreie zweier Hirsche, auch Sprengrufe. Es hörte sich an, als würde dort unten tatsächlich ein Kampf zwischen zwei Rivalen stattfinden. Wir baumten ab, denn sehen konnte man nun absolut nichts mehr.
Ich bedauerte sehr, dass dieser beeindruckende Ansitz vorüber war. Auf eine Wiederholung hoffte ich damals nicht. Ich konnte nicht ahnen, dass dies nur der Anfang einer langen guten Freundschaft war, ich bereits ein Jahr danach in diesem Revier sogar einige Male mit ihm auf Jagd gehen würde und selber dort Rothirsche erlegen. Ich glaubte noch nicht mal, dass mein Begleiter damals tatsächlich ahnte, was mir diese Stunden auf dem Ansitz bedeutet und wie viel sie mir an Durchhaltekraft gegeben hatten. Doch, tat er, denn einige Zeit später hatte wir uns auch darüber unterhalten.
Überglücklich kehrte ich an diesem Septemberabend nach Hause zurück und hielt das Erlebte akribisch im Jagdtagebuch fest. Damals musste ich Stillschweigen bewahren, denn das, was der Förster für mich getan hatte, war viel zu der Zeit und bei diesem Revier. Meine Vorliebe fürs Rotwild habe ich behalten. Ich bewundere noch heute die Wachsamkeit eines Alttieres und die majestätische Erscheinung des Hirsches. Und der Schrei eines nahen Rothirsches bringt mir noch immer Gänsehaut ein.

ENDE

Text und Fotos © Hildruth Sommer