Der Letzte

Ich gönn's dir, du mir auch?

Zum Schluss meiner Jägerzeit kam nochmal so eine Sache, die mir zeigte, dass Jagdneid schlimmer als .... ist. Ich mag das Wort hier nicht schreiben, ein typisch männliches halt. Ich selbst war diesem Neid durch meinen Mentor und Freund nur nicht gleich ausgesetzt. Bei ihm habe ich das nie feststellen können oder müssen und vor dem boshaften Neid der anderen hatte er mich geschützt.
Um einiges anders verhielt es sich beim zweiten Lehrmeister, aber drüber berichtete ich an anderer Stelle. Als ich selbst noch nicht jagen gehen und erlegen durfte, nahm mich dieser erfahrene Jäger des öfteren mit hinaus in sein Revier. Er selbst hatte ja "Saudreck" in den Taschen. Ihm liefen die Schwarzen nur so vor die Füße, was bei mir dann wieder mit dem Rotwild der Fall war. Nun kam letztere Wildart in den Revieren aber doch ziemlich selten vor, außer in diesem einen, und war als Trophäe bei den Jägern begehrt. Es brachte mir Neid ein, manchmal in schlimmster Weise. Ich habe es in den Geschichten erwähnt. Und genau so war es auch bei meinem letzten Hirsch, den ich in meinem Jägerleben erlegte. Dabei hatte der nicht mal "viel drauf." Hirsch reichte. Da kann man nur stöhnen oder es irgendwann mit Humor betrachten.

In der Nähe eines eingezäunten Jungwaldes, der Kultur entwachsen, stand eine geschlossene Kanzel oberhalb eines Hanges im Altholz, die ich an diesem Nachmittag angehen musste, und das auf einem Waldweg, der  ungute Erinnerungen weckte. Ich war sehr lange nicht dort gewesen. Der Pächter hatte mir die Kanzel empfohlen, weil es noch Rotwild zu erlegen galt. Es erinnerte mich an eine kleine Drückjagd in diesem Rotwildrevier, bei der ich vom Pächter genau an der Ecke dieses Weges zu einer Jungwuchs-Einzäunung angestellt wurde.  Ich stand also auf diesem Weg, vor mir lag die eingezäunte Fläche, links neben mir befand sich in einiger Entfernung ein weiterer Schütze, rechts neben mir schloss sich nach einigen Metern Altholz an, in welchem sich jene Kanzel befand, diese wiederum auf dem Kopf eines anschließend steil abfallenden Hanges. Also war dorthin schießen ebenfalls tabu, kein Kugelfang. Erst recht nicht in Richtung der Treiberwehr an der rechten Seite des Zaunes entlang. Als sicheres Schussfeld blieb nur der Waldteil übrig, welcher sich auf der dem Jungwald gegenüberliegenden Seite entlang des Weges befand. Doch dort war alles dicht mit Büschen und Anflugfichten bewachsen. Und so stellte sich mir die Frage, wozu ich da eigentlich diente, was ich da sollte?
Durchgedrückt wurde die vor mir im Gatter liegende Jungwuchsfläche, und zwar von innen auf mich zu, da, wo der Drahtzaun völlig dicht war, ansonsten besaß er doch schon an einigen Stellen Lücken. Die Fläche an sich stellte ein Eldorado für Reh und Rotwild dar, vielleicht sogar für Schwarzkittel. Brombeergerank, Birken, junge Buchen, Ebereschen, Fichten, alles mögliche hatte sich dort im Laufe der Jahre angesiedelt.
Ich kam mir also vollkommen überflüssig vor, ziemlich veralbert, ums gelinde auszudrücken, aber ich hatte mir im Lauf der Jahre halt doch schon mein Urteil über "jagende Männer" (auf vierbeiniges Wild) gebildet und sie schnitten, bis auf wenige Ausnahmen, aber halt Ausnahmen, nicht gerade gut ab. Vor allem, was mitjagende Frauen betraf. Untereinander waren sie sich allerdings auch nicht so grün in dieser „Grünen Zunft“. Entweder prahlen oder sich ausstechen. Nun gut...
So harrte ich also auf meinem mir zugewiesenen Stand an der Einzäunung aus und war im Kopf schon wieder zu Hause. Da brach und prasselte es unmittelbar vor mir im Jungwuchs, und schon sprang mit angsterfüllten Augen ein Rottier und hernach ihr sicher eigenes Kalb gegen den Zaun. Mit voller Wucht! Ich war erschrocken. Und diesen panischen Blick kann ich nicht mehr vergessen. Für einen Bruchteil sahen wir uns an, im Abstand von vielleicht zwei Metern oder weniger. Aber mein Anblick war für das Tier mit Sicherheit noch einmal um vieles schlimmer. Panik pur. Im nächsten Moment schon hatte es sich wieder herumgeworfen und preschte zurück in Richtung der Treiber. Ein Schuss ist an dem Tag nicht gefallen, so viel sei noch erwähnt. Es war also mit seinem Kalb nochmal davongekommen, was mich unheimlich freute. Aber dieses Geschehnis und die Panik des Tieres in solch unmittelbarer Nähe zu erleben, Auge in Auge, hatte bei mir viel hinterlassen.




An genau dieses Erleben wurde ich erinnert, als ich am besagten Oktobernachmittag vorsichtig auf die zuvor schon genannte  Kanzel zulief. Weibliches Rotwild galt es auf jeden Fall noch zu erlegen. Die Brunftzeit war zu Ende. Ich baumte auf und betrachtete mir die Umgebung genauer. Vor mir, also unter mir, lag der steil abfallende Altholzhang, an dessen Kopf ich mich nun befand. Etwa hundert Meter darunter gab es eine kleine Blöße, der einzig helle Fleck in diesem herbstlich grau schimmernden Fichtenwald. Hell war die Blöße deshalb, weil sie nur mit Gras und Moos bewachsen war und durch die Lücke im Kronendach der Fichten Licht hereinfallen konnte.
Nach fast zwei Stunden Ansitz, es begann zu dämmern und war damit noch dunkler geworden, als der Tag eh schon war, tauchte weibliches Rotwild am Hang unter mir auf.  Ich konnte in dem Licht und durch den Hang allerdings kaum noch unterscheiden, um was für ein Stück es sich da jeweils handelt. Stand es weiter oben zu mir, und wo genau konnte ich noch nicht mal richtig ausmachen, wirkte es größer, als es vielleicht war. Gebäude und Kopfform zerflossen in eintönigem Grau vor ebenfalls graubraunem Hintergrund. Nichts da, Finger gerade, und ich blickte durchs Glas hinunter zu diesem grünen, hellen Fleck, der an der Hangsohle lag und damit sogar recht eben wirkte. Würde das Rudel dort hinunter ziehen, und das waren bis dahin nur noch wenige Meter, könnte ich sie unterscheiden.
Genau das taten sie aber nicht, derweil wurde es immer dämmriger. Ich war schon drauf und dran, leise meine Sachen zu packen und den Sitz zu verlassen, tätigte den üblichen Kontrollblick... da schob sich doch tatsächlich dort unten, genau vor den grünen Fleck, ein Hirsch in die Optik. Er und sein Geweih zeichneten sich deutlich im Restlicht vor dem hellen Hintergrund ab. Er war nicht mehr ganz jung, hatte aber „mäßig auf“. Dünne kurze Stangen ohne Krone, gering gegabelt, keine Eissprossen und kurze Aug- und Mittelsprossen. Ein Achter von drittem oder viertem Kopf und damit insgesamt ein astreiner Abschusshirsch. Mir ging sofort durch den Kopf: Sollte ich tatsächlich nach meinem ungeraden Zwanzigender erneut einen Hirsch präsentieren? Der Abschussplan gab diesen schwachen Hirsch  her, untersagt hatte es mir auch keiner... Und genau das war doch Jagen!
Im Verhältnis zu den anderen Jägern hatte ich, das sei auch mal erwähnt, beileibe wenig Trophäen an der Wand, und besser solch einen „sicheren Kandidaten“, als einen weiblichen Fehlabschuss, ein starkes Kalb, ein junges Schmales oder gar ein falsch angesprochenes führendes Alttier, über was ich mich hundertpro fürchterlich ärgern würde. Gar nicht schießen, den Finger gerade sein lassen, wie oft hatte ich das, wo es viele andere Jäger sicher nicht getan hätten. Bei Sauen im Raps zum Beispiel, wo es drumherum noch wuselte und nicht auszumachen war, wozu und zu welchem Stück die noch versteckten Frischlinge gehörten. Bei Rot- oder Rehwild, die ich altersmäßig nicht mit Überzeugung ansprechen konnte oder nicht genau wusste, ob es nicht doch führte. Auch bei Füchsen während der Zeit ihrer Aufzucht schoss ich nicht. So konnte ich bis dahin ganz ruhig vor mir bestehen. Der Hirsch stand auf dem Grasflecken breit und still. Ich hatte ihn im Ziel und drückte ab.




Es sollte mein letzter Hirsch gewesen sein, den ich erlegte. Das letzte Stück Rotwild ebenfalls. Das letzte Stück Wild in diesem Revier und in Deutschland, doch das wusste ich zu der Zeit natürlich noch nicht.
Seine Flucht ins Altholz war kurz, ich lauschte ihm nach, wo er zu Fall kam. Danach rief ich den Pächter an und meldete den Abschuss. Das erste, was ich zu hören bekam, war ein Anranzer vom Feinsten, wie ich bei solch einem Licht noch hätte schießen können. Es war ja schon spät. Natürlich äußerte er auch gleich Zweifel ob der Stärke des Hirsches bzw. dass es überhaupt ein Abschusshirsch war. Keine Freude, kein Weidmannsheil... Der Hirsch lag mit Blattschuss nur wenige Meter entfernt im Altholz. Selbst als wir den Hirsch gemeinsam bargen, er sich von diesem sauberen Abschuss selbst überzeugen konnte, das dann ja auch „zugab“, kam nichts dergleichen. Seine Missstimmung löste sich erst später auf - meine eigene daraufhin nicht mehr. Er hatte sich ja schon zuvor einige Unrühmlichkeiten geleistet. 
Ein zweiter Jäger, dem ich das Erlebnis Tage darauf schilderte und von dem ich anderes erwartet hätte,  rügte mich allerdings genauso ob des Zeitpunktes, an dem ich geschossen hatte. Es wäre zu dunkel gewesen. Nein! War es nicht! Sonst hätte ich nicht geschossen!  Hatte ich bisher doch auch nicht... und das waren schon etliche Jagdjahre.
Was auch immer der Grund war, heute würde ich darüber nur mit der Schulter zucken und mir meine Freude nicht verderben lassen. Damals war ich geschockt und traurig. Das schlug allerdings später in Zorn um. Dass man mir den zuvor erlegten ungeraden Zwanzigender, im Beisein des Pächters, unter dessen Kontrolle und Aufsicht, nach gründlicher Ansprache wohlgemerkt, im Nachhinein auch noch „ankreiden“ würde, wusste ich zu der Zeit noch nicht. Jene unrühmliche Geschichte steht unter "Der Starke" geschrieben.
Auch von diesem letzten Hirsch gibt es kein vernünftiges Foto. Der Hirsch wurde von uns versorgt, vom Pächter auf den Hänger geladen, ich selbst zu meinem Auto gefahren und ab ging die Post. Und so stand ich erneut vor meinem Eingang zu Hause, das blanke Haupt in den Händen. Was für ein charakterliches Armutszeugnis für diese Herren. Und davon gab es recht viele. Es taucht übrigens noch mal auf bzw. er, der Pächter, dann in Schottland und einer der Geschichten von dort, aber keinen Deut besser.
Geblieben sind Erinnerungen an schöne Zeiten und Seiten, an gute Jäger, die hatte es ja auch. Wenige, aber immerhin. Alle anderen sind halt "Geschichte".