Ein Morgenansitz.
Weißt du noch?
„Oh man, ich hab tatsächlich verschlafen!“
Der verwuschelte Kopf verschwindet wieder im Fenster über mir, nicht
ohne nachzusetzen: „Ich komm sofort runter und mach auf!“
Schon trappelt es drinnen auf der Treppe. Die Tür wird einen Spalt
breit geöffnet und der Mann in jagdgrünen Unterhosen verschwindet
rasch im Arbeitszimmer.
Ich gehe nach links in die Küche und rufe laut hinüber: „Soll ich noch
einen Tee kochen?“
„Klar...“, antwortet er, „ so viel Zeit muss sein.“
Der Tee dampft bereits in der Kanne, als der Förster in voller
Jagdmontur ins Zimmer tritt. Nun hat er Zeit, sich noch einmal in
aller Form zu entschuldigen. Dabei lächelt er ein wenig verlegen,
schlürft sachte den heißen Tee und schaut auf die Uhr.
„Oh, halb Fünf!“ Der Satz war eine Oktave höher, was bedeutet, wir
müssten uns jetzt doch etwas sputen. Noch nicht mal ausgetrunken...
denke ich noch, setze meinen halbvollen Pott auf den Küchenschrank und
los geht’s.
Die Wasserfläche, an der wir entlang fahren, glitzert selbst im
Dunkel. Der kleine Clio umrundet eine Kurve nach der anderen. Um diese
Uhrzeit war am Stauseeufer nicht mit Gegenverkehr zu rechnen. Und so
finden wir uns schon kurze Zeit darauf und etliche Kilometer weiter
mitten im Wald wieder.
„Mein Gott, das ist ja rappelfinster“, sage ich zu meinem Begleiter
halblaut. Der grinst nur und wirft sich die Büchse über die Schulter.
Dann geht er ins Stangenholz voran. Ich sehe absolut nichts mehr. Wie
findet er nur den richtigen Weg? Er stoppt seine Schritte, schaut über
die Schulter zu mir zurück, ob ich ihm auch folge und das heißt
gleichzeitig für mich, doch etwas dichter aufzuschließen. Zwischen uns
sind keine Worte nötig. Gelegentlich stolpere ich über Wurzeln und
kralle mich an der Jacke meines traumtänzerisch sicher durch die
Finsternis tappenden Försters fest. Sicher ist sicher. So richtig wohl
ist mir nicht in meiner Haut. Man kann buchstäblich kaum die Hand vor
Augen erkennen, geschweige denn die eigenen Füße. Trockene Äste
streifen leicht unsere Jacken, in dieser Stille ein erschreckend
lautes Geräusch. Ruckartig stoppt der Mann vor mir und ich laufe auf.
"T'schuldigung" murmele ich leise. Erst jetzt erkenne ich, dass wir
direkt vor der Kanzelleiter stehen. Ich lasse die Jacke los, er steigt
sachte hinauf, öffnet beinahe geräuschlos die Tür der Kanzel und
verschwindet darin. Erst jetzt folge ich ihm nach. Die linke Hand
umschließt den Holm, die rechte greift die Sprossen. Ganz langsam,
jedes Geräusch vermeidend, schiebe ich mich in ins Kanzelinnere. Tür
zu... die Anspannung weicht. Ich lasse mich auf das Sitzbrett sinken.
Und was macht mein Begleiter? Er lächelt. Typisch. Wenig Worte und
nahezu immer ein Lächeln im Gesicht. Seine gelassene Art hatte mir
schon oft den Dampf aus den Gliedern genommen, vor allem dunkle Wolken
vom Gemüt.
Dann zieht er seine Schnupftabakdose aus der Tasche und schnieft
dieses eklig schwarze Zeugs. Oh man, und das bei geschlossenem
Fenster.... schon kribbelt es in meiner Nase. Seit er vor Jahren einen
Herzinfarkt hatte, war er vom Rauchen zum Pulver gewechselt.
Vorsichtig klappt er eins der Kanzelfenster nach oben. Frische,
würzige Morgenluft strömt herein. Erstes Frühlicht dämmert. Und dann
wird es mit rasanter Geschwindigkeit Tag. Nun erkenne ich auch
deutlich die uns umgebende Landschaft.
Links von mir erstreckt sich der Waldsaum, an dem wir ansitzen. Es
folgt eine sich daran anschließende freie Fläche mit ein paar Stubben,
rundherum begrenzt von Altholz. Letzteres versperrt dort aber nicht
die Sicht, denn es liegt weit tiefer als jenes Gelände, auf dem sich
die Kanzel befindet. Ich schaue über grüne Hügel bis weit in die
Ferne. Die linksseitige baumlose Fläche führt in leichtem Bogen zu uns
herauf, sich auf etwa fünfzig Meter verengend, führt dann an der
Kanzel vorüber, bis sie sich nach etwa hundert Metern rechterhand mit
dem höher gelegenen Altholz vereint. Über die der Kanzel
gegenüberliegenden Bäume kann man leider nicht mehr hinweg blicken.
Ich habe somit den besseren Platz von uns beiden mit schöner, weiter
Sicht.
Und nun hebt ein vielstimmiges Konzert an. Aberhunderte Vögel scheinen
sich zum Singen verabredet zu haben. Genau deswegen bin ich draußen...
und ich darf es teilen.
Mein Förster flüstert, was ich denke. „Ist das nicht herrlich?“
Ich gewahre eine Bewegung auf der Freifläche und mache ihn darauf
aufmerksam. Es ist ein gut veranlagter Rotspießer, der gelassen sein
Morgenfrühstück einnimmt. Lange bleibt er das einzige Wild, welches
wir bei diesem Frühansitz beobachten können. Dann taucht doch noch
rechts vor der Kanzel ein weiterer junger Geweihter auf. Ohne
Diskussion – das Gewehr bleibt unberührt, aus zweifachen Gründen. Mit
dem Fernglas kann ich dem Hirsch fast ins Auge schauen.
„Ein schöner Kerl“ sage ich und zucke im nächsten Moment zusammen. Es
kommt prompt in erwarteter Form zurück.
„Schön ist nur ein Weibera... Das wären die nächsten fünfzig Pfennig
in die Kasse“, schmunzelt mein Begleiter.
Ich nicke nur. Ich kenne das Spiel. Er hält mich sehr zum Gebrauch der
korrekten Weidmannssprache an. Und selbst dieser derbe Ausspruch ist
ein geflügeltes Wort in der Sprache der Jäger. Diese "Erziehung" sitzt
mir noch heute in den Knochen. Ich finde es grässlich und manchmal tut
es körperlich weh, wenn ich Tierfilme schaue und von „Hirschkühen“ die
Rede ist. Oder ein Rothirsch gar als Bock bezeichnet wird. Diese
Sprache existiert nicht von ungefähr. Sie hat sich auch nicht für
umsonst über Jahrhunderte entwickelt, gibt sie doch sehr genau und
unverwechselbar wieder, was da vorhanden und Sache ist. Der Bock – nur
zwei Worte, und sofort weiß der Insider, es handelt sich um ein
männliches Stück der Gattung Rehwild, und das ist eben etwas ganz
anderes als Rotwild. Aber selbst das weiß Mensch von heute kaum. Sie
können Automarken unterscheiden, aber kein Rotwild von Rehwild. Gut,
manches ist übertrieben. Dass ich nicht schön zu diesem schönen Tier
sagen darf zum Beispiel. Aber "prächtig" ist wieder erlaubt.
Und dann fängt mein Freund mit einem Mal zu erzählen an. Weshalb ihm
gerade jetzt die Story mit dem vermasselten Weihnachtsfest eingefallen
ist, weiß er sicher selbst nicht. Er hatte am Morgen des 24. Dezember
mal wieder eine Drückjagd angesetzt, auf dem er das „übrig
gebliebene“, mangels Trophäen für andere Jäger „unattraktivere“,
Kahlwild schoss, so viel mit Versorgung und Abtransport zu tun, auch
etliche Nachsuchen für die Gruppe zu erledigen, dass er nicht
wahrnahm, wie spät es wurde. So kam er fast im Dunkeln nach Hause,
fand Frau und Kinder weinend vor, weil der Weihnachtsbaum noch nicht
vorhanden war – den er besorgen wollte.
„Das tat mir so leid. Die hatten es mit mir wahrlich nicht leicht.
Dann habe ich mich aber beeilt...“, sagte er.
Ich musste lachen. Ja, mit Vollblut-Jägern hat es keiner leicht.
Hernach gleitet er noch weiter in die Vergangenheit, berichtet von der
Zeit, als es ihnen, als sogenannte Jagdkommandos, nur unter Aufsicht
der Russen erlaubt war, ihrer Leidenschaft nachzugehen, und das auch
nur, weil die Wildschweine sich übermäßig vermehrten und außerhalb des
Waldes viel Schaden anrichteten. Die Russen hätten generell die
Trophäen wenig interessiert, wenn sie jagen gingen. Ihnen wäre es mehr
ums Wildbret gegangen.
„Manchmal hatten die Köpfe der Hirsche sogar noch draußen gelegen, mit
Geweih natürlich“, ergänzt er die Berichte von damals.
„Weißt du noch...“ beginnt die nächste Geschichte, denn nun sind
unsere
gemeinsamen Erinnerungen an der Reihe. Wenn er einmal
ins Reden kam, dann richtig. Ja, ich kann mich noch gut daran
erinnern, wie wir Stunden auf offenen (ohne Dach gemeint) Leitern
zugebracht haben, um kapitale Hirsche zu verhören und anzuschauen, bei
denen er mich danach zum Stillschweigen verdonnerte, was für Starke
dort standen. Er wollte damit einfach keine Begehrlichkeiten wecken
und sich seine wie deren Ruhe erhalten. Später habe ich das gut
verstehen können.
Und dann fuhr er fort: „Weißt du noch, wie wir damals mit den Skiern
nahe der Fütterung plötzlich einem Spießer gegenüberstanden, mitten
auf dem Weg, und der uns bis auf 20 Meter herankommen ließ, ohne sich
zu rühren? Es stellte sich später heraus, dass der beinahe blind war,
man hat ihn dann mal erlegt.“
„Weißt du noch...“, so fange ich daraufhin an, „... wie wir nachts mit
deinem Trabbi, den du ja sogar noch lange nach der Wende behalten
hast, die weit auseinanderliegenden Felder bei Mondschein nach Sauen
absuchten? Das fand ich damals richtig gruselig und wunderschön
zugleich. Wir waren ja weit und breit die Einzigen, die mitten in der
Nacht unterwegs gewesen sind. Und weißt du noch, wie du den Meier am
Telefon veräppelt hast, dass ich den nächsten Hirsch an seiner Grenze
erlegt hätte? Man, war der sauer! Bis du ihn aufklärtest, dass es nur
ein Reh gewesen ist, weswegen ich in eurem Büro erschienen bin. Und
dann hast du ihn zusammengestaucht. Er solle gefälligst auch mal die
Tauben bejagen und nicht nur Hirsche und Sauen. Ich hätte schon wieder
massenhaft geschossen.“ Bei diesem Gedanken muss ich grinsen, fand ich
damals klasse von ihm und hatte mich mächtig stolz gemacht.
"Und weißt du noch, wie oft ich in deinem Revier umhergekraucht bin?
Mit der ganzen Familie. Sogar meine Mutter musste mit und hats auch
gemacht. Man, war ich froh, dass du mich nicht gebremst hast." Ich war
eben gern in seinem Revier, welches damals noch größer war, denn er
war ja Oberförster. Hier gab es einfach so viel zu sehen, so viel
Anblick. Und so hatte ich vor Jahren auch den verendeten Hirsch
gefunden, dessen Stangen irgendwer mit der Axt abgeschlagen hatte. Er
hatte mich zum Förster geführt und so hatte alles begonnen.
Wir schweigen wieder. Das Vogelgezwitscher beim Morgenansitz ist
abgeebbt, der Tag schreitet voran. Es wird ein prächtiger Tag werden,
mit viel Sonnenschein und angenehmer Wärme. Damals waren die Sommer
noch warm, nicht ekelhaft heiß.
Wo Rotwild steht ist selten auch Rehwild
daheim. Und so gab es auch an diesem Tag, wie an so vielen, keine
Beute für den Jäger, was dem Förster und später auch mir jedoch nie
viel ausgemacht hat. Es sei denn ich ging zu oft in Folge „leer“
nach Hause. Erst dann fing ich an, innerlichen „Erfolgsdruck“ zu
spüren. Es sei denn, den Druck machten mir andere, Pächter zum
Beispiel aus verschiedenen Gründen, oder Landwirte, deren Maisfelder
ständig von den Sauen verwüstet wurden. Ab und an waren es auch die
lieben Jagdkollegen. Ich war halt kein Risikoschütze und von jeher
vorsichtig. Der Förster schätzte es allerdings, dass ich verzichten
konnte.
Es ist unbenommen nicht für viele ein Genuss, sich bei Frost oder
auch nur mal so, still auf eine Leiter zu hocken, um vielleicht ein
Tier beobachten zu können. Manchmal nicht mal das. Für die meisten
wäre es die pure Langeweile. Tropfender Regen auf Blätter ist für
sie... nass. Für mich war solch Stimmung von jeher Friedfertigkeit
und über die Maßen beruhigend. Wild zu sehen, auch Jagen zu gehen...
eine andere Welt. Da draußen schien alles so einfach. Es richtete
sich nach simplen Gesetzmäßigkeiten. Vielleicht eine Art Sehnsucht
nach dem Einfachen, Überschaubaren? Ich weiß es nicht. Als die Jagd
später einen komplizierten Touch bekam, machte sie mir keinen Spaß
mehr.
Ein eigentlich unspektakulärer Morgenansitz. Einer von zahlreichen,
aber einer, der mir wie gar manche andere gemeinsame mit meinem
Mentor und Freund im Kopf blieb.
ENDE
Text und Fotos © Hildruth Sommer