Großvaters Hut
Der Kohlfuchs
Mein Großvater war Förster... und furchtbar abergläubisch. Zumindest
was die Jagd betraf. Aus diesem Grunde tauschte er nur ungern und
äußerst widerwillig seine ihm liebgewordene, manchmal schon stark
abgetragene Jagdkleidung - oder Teile davon - gegen neue
Kleidungsstücke ein, vermeinte er doch, dass damit auch eine
Pechsträhne einziehen könnte. Sicher, gelegentlich war es
unumgänglich, aber eine unangenehme Tortur, und das nicht nur für Oma
wegen der anstrengenden Überzeugungsarbeit, sondern für allem für Opa.
Von einem aber wollte er sich partout nicht trennen: dem Jagdhut. Nach
gut dreißig Jahren jagdlichen Hutlebens war das Attribut "abgegriffen"
aber kein passender Ausdruck mehr für dessen Zustand. Welche Form ihm
früher mal zugedacht war, konnte der Betrachter nur noch erahnen. Auch
farblich gab er Rätsel auf. Doch Opa liebte ihn. Opa hing an ihm
und... Opa trennte sich davon kein Stück! So hielt sich auch seine
Begeisterung in Grenzen, als zu Weihnachten auf dem Gabentisch ein
funkelnagelneues Exemplar eines Jagdhutes lag.
"Na?" fragte Oma, und nochmals: "Naaa?" Erwartungsvoll blickte sie den
Großvater an. Nach einer Zeit des Schweigens seufzte dieser und setzte
ihn tatsächlich auf, trat vor den großen Spiegel im Flur und drehte
lange und umständlich den Kopf mal zur einen, mal zur anderen Seite.
Dann seufzte er und nickte. Nun schien Oma sichtlich erleichtert.
"Gell, der gefällt dir. Da habe ich aber auch lange gesucht. Nun laß
aber den alten auch tatsächlich zu Hause am Haken. Der hat seine
Pension genauso verdient."
Damit schien das Thema Hut abgeschlossen zu sein. Dachten alle, mit
Ausnahme von Opa, dessen bin ich mir heute sicher. Opa trug den Hut
tatsächlich fortan auf der Jagd, er wollte Oma sicher nicht
enttäuschen.
Es war mal wieder zunehmender Mond und der Großvater wie üblich abends
kaum noch zu Hause anzutreffen. Dass die Mondansitze für Opa nicht
immer jagdlichen Erfolg mit sich brachten war normal, doch diesmal
wurde Opa immer stiller, erzählte bei seiner Rückkehr von ihnen kaum
was, wurde immer schweigsamer, schien sogar bedrückt. Einmal
beobachtete ich, wie er den Weihnachtshut nicht achtsam wie früher an
dessen Stammplatz an der Garderobe aufhängte, sondern ihn lange in der
Hand drehte und plötzlich mit Schwung auf die Holzbank im Hausflur
beförderte. Ich fragte nicht, aber es kam mir seltsam vor.
Die Mondnächte vergingen ohne Erfolg für den Jäger und Großvater
wirkte auf mich, als habe er sich an einem Problem festgebissen. Seine
jagdlichen Ansitze kamen hernach oft unangekündigt aus heiterem
Himmel, nicht geplant und freudig wie sonst, sondern fest
entschlossen. So kannte ich meinen Opa nicht, denn sonst verspürte
jeder seine Vorfreude auf die besinnlichen Stunden draußen, über die
er so gut zu berichten wusste. Ich fühlte, dass der Großvater Sorgen
hatte. Doch war ich mir im Klaren, dass es nicht die rechte Zeit war,
den Grund für diesen Stimmungswechsel zu hinterfragen. Ich hoffte,
dass der Opa irgendwann von selbst erzählen würde.
Ich sollte recht behalten. Wieder war der Mond voller geworden und Opa
diesmal sogar jede Nacht im Revier. An seiner gedrückten Laune
hatte sich in den vergangenen Wochen nicht viel geändert. Es war
Sonntag und ich verbrachte ihn wie üblich bei der Großmutter. Wir
saßen gemütlich auf dem kleinen Sofa in der Wohnstube und Oma erzählte
gerade eine ihrer tollen Geschichten aus ihrer Kindheit. Opa war
diesmal bereits am frühen Nachmittag zur Jagd aufgebrochen. Mit einem
Mal hörten wir, wie draussen die Haustür aufgerissen wurde und mit
einem lauten Knall ins Schloß fiel. Es polterte im Hausflur und da
stand auch schon der Großvater in der Stube.
„Nie wieder! Nie wieder setze ich diesen vermaledeiten Hut auf! Macht
was ihr wollt, aber der allein ist schuld dran. Bestimmt ... so was
hab ich noch nicht erlebt!“
"An was denn, Opa? An was ist er Schuld?" fragte ich gespannt, denn so
kannte ich den sonst ruhigen und ausgeglichenen Großvater nicht. Da
musste sich draußen Furchtbares zugetragen haben! Vor meinen Augen sah
ich einen umgestürzten Hochsitz, einen riesigen Keiler auf den Opa
zustürmen ... Was sonst konnte die Ursache für solch eine Aufregung
sein?
"Da, schau dir das an, Else ..." Mit diesem Satz warf Opa seinen
Jagdrucksack auf den Stuhl.
Oma blickte ihn fragend an. Sie verstand so wenig wie ich. Dann erhob
sie sich mit einem Ruck vom Sofa, fasste den Opa sanft am Arm und
forderte ihn auf, sich erst mal zu setzen und dann in Ruhe zu
berichten, was eigentlich vorgefallen sei. Omas ruhige Stimme
besänftigte meinen Großvater tatsächlich. Er setzte sich an den Tisch
und erzählte.
"Else, du weißt, wie sich die Nachbarn beschwert haben, über den
Fuchs, der immer wieder in die Ställe gekommen ist, ganz frech zu
jeder undenkbaren Tageszeit. Was ich bloß für ein Jäger sei, der nicht
mal einen Fuchs kriegen würde. Wie lang stelle ich dem nun schon nach.
Nichts. Ein Kohlfuchs ist es, ein großer Rüde. Immer wieder hab ich
den gehört, wenn ich im Bett lag. So eine Stimme wie der ...
unverkennbar, als sei er ... ", Opa suchte nach Worten, ... "besonders
heiser, ja, das trifft's."
Der Großvater schaute nachdenklich auf die Tischplatte, machte eine
lange Pause. Dann fuhr er fort zu berichten.
"Ja, aber jedes Mal, wenn ich auf den Ansitz am kleinen Wäldchen
wollte, war er schon auf der Wiese draußen, hat mich angesehen und ab
ging die Post, weg war er. Wie soll ich sonst dahin kommen, muss ja
über die Wiese!"
Der letzte Satz klang wie eine Entschuldigung.
"Hab mich trotzdem angesetzt und immer vergeblich gewartet, dass er
zurückkommt. Gefroren hab ich, wütend war ich. Ne, so was kenne ich
nicht. Alle meine Tricks haben nicht geholfen. Bin ich zeitiger raus,
war er schon da. Bin ich nachts raus, stand er auch schon auf der
Wiese... fragte mich schon, wann der überhaupt Zeit für die Hühner
findet. Einmal wollte ich vormittags Köder auslegen und mit dem Auto
bis an den Waldrand fahren, steht er nicht schon wieder da! Er lief
sogar ein ganzes Stück, in sicherer Entfernung natürlich, neben dem
Auto her, hat dann einen Bogen geschlagen und mir die Lunte gezeigt,
als ich anhielt. Und heute wollte ich's ganz schlau machen, denke mir,
schneidest ihm gleich den Weg ab und pirschst dich von der langen
Buschwerkreihe am Wiesenrand gegenüber dem Wäldchen an. In die
Richtung ist er immer geflüchtet oder er stand gar gleich in der Nähe
der Büsche."
Nun legte Großvater eine kleine Pause ein, fischte einen Stumpen aus
der Tasche, zündete sein Rauchwerk aber nicht an, sondern erzählte
weiter:
"Oh, das war ein Bogen und das bei dem Schnee! Naja, und weil’s so
weit war, ausserdem lästig beim Pirschen, habe ich den Rucksack am
Anfang des Wäldchens in der Nähe des Ansitzes abgelegt. Außerdem stand
der Wind von dort leicht rüber zu ihm, also musste er zu den Büschen
kommen, falls er Witterung vom Rucksack bekommt. Ooooh, kam ich mir
klug vor...! Menschengeruch am Rucksack, das musste er doch hassen!“
Opa nickte bekräftigend und fuhrt fort, nun etwas ruhiger geworden:
„So. Ich hocke da also in den Büschen, mein heiserer Fuchs wie immer
auf der Wiese... mittendrauf, klar, zu weit zum Schuss... erstmal
schnürt er in Richtung Wald, denke mir daher, diesmal klappt es.
Irgendwie muß er doch den Rucksack in die Nase kriegen und rüber zu
mir stürmen. Neeee, schnürt der nicht tatsächlich immer schneller auf
den Ansitz zu und schwupps, weg isser. Seh’ ihn nicht mehr, kommt auch
nicht mehr. Nach über einer Stunde spüre ich vor Kälte die Füße kaum
noch. Na, das war’s wieder, denke ich, und laufe enttäuscht den
Rucksack abholen. Und was meint ihr, was ich da sehe?!!“
Opa ist wieder völlig aufgeregt, fuchtelt wild mit den Händen vor dem
Rucksack auf dem Stuhl.
„Da hat mir doch der Schlawiner meine Vesperwurst aus der Seitentasche
am Rucksack geklaut! Und dabei hatte ich so einen Hunger nach der
Lauferei durch den Schnee!“
Oma und ich blickten uns ungläubig an. Sie schien Ähnliches zu denken
wie ich: Opa verkohlt uns, das ist Jägerlatein. Doch die Miene des
Großvaters beim Erzählen und noch danach ließ diese Zweifel doch
schnell verfliegen. Und nun geschah etwas, mit dem Opa nie gerechnet
hatte: Oma und ich brachen in schallendes Gelächter aus! Oma wischte
sich Tränen vom Gesicht und konnte so wenig mit dem Lachen aufhören
wie ich selbst. Als wir uns endlich beruhigten, erhob sich der
Großvater mit völlig beleidigter Miene von seinem Stuhl und verließ
die Stube.
„Lass mal, Mädchen, das wird wieder“, sagte Oma zu mir und hielt mich
fest, denn mir tat der Großvater nun leid und wollte ihm nachlaufen.
Oma deckte rasch den Abendbrottisch und richtig, als der Großvater
zurückkehrte, war ihm nichts mehr von seiner Verärgerung anzumerken.
Über die Geschichte verlor er dann kein Wort mehr, und wir wagten es
nicht, noch eine einzige Frage an ihn zu richten. Doch Opa schien wie
ausgewechselt. Er schwatzte drauflos und erzählte von früheren
Jagderlebnissen. Merkwürdig.
„Wo warst du denn vorhin so lange?“ fragte ihn nach dem Essen die
Großmutter. „Ach, ich hab den Schnee vor'm Schuppen weggemacht und
dann war ich noch in der Heizung, den Hut verbrennen.“
„Wurde auch Zeit, dass das alte Ding verschwindet,“ sagte Oma.
„Nö,“ Opa zwinkerte mir zu, „den
neuen Hut habe ich
verbrannt!“
Oma brachte kein Wort mehr raus. Sie schaute mal zu Opa, mal zu mir
und wieder zu Opa. Opa erklärte nicht, Opa schaltete das Fernsehgerät
ein und wirkte sehr zufrieden.
Zwei Tage darauf brachte Opa einen starken, prachtvoll dunkel
gefärbten Fuchsrüden nach Hause. Mittags! Es war ein herrlicher,
sonniger Wintertag. Ich sehe dieses Bild noch vor mir: Stolz stand der
Großvater im Hof und hielt den erlegten Fuchs in die Höhe. Seinen
alten Jagdhut hatte er weit ins Genick geschoben, und Opa lachte,
lachte ...
ENDE
Text und Fotos © Hildruth Sommer