Der Nebelkeiler

Spannung bei Nacht

Die Nebelsuppe wird immer dicker. Es ist zum aus der Haut fahren. Da habe ich meinen Jagdlehrer im zugewiesenen Revier endlich mal wieder überzeugen können mich "planmäßig" zur Nachtpirsch mitzunehmen, es hatte mal alles zusammengepasst... und nun spielt das Wetter nicht mehr mit. Der Mond hält sich hinter Nebelwolken versteckt. Nur hin und wieder reicht sein Licht, um die Wiesen hinter dem Dorf nicht bloß als dunklen Teppich erscheinen zu lassen, auf dem rein gar nichts zu erkennen ist, weder Busch noch Wild, sollte dieses tatsächlich darüber wechseln. Und das ist fast gewiss, hat doch G. eine Kirrung in der Nähe angelegt. Sie war in den letzten Nächten von den Sauen regelmäßig angenommen worden.
Blöde Lehrzeit! Wenn ich nur wüsste, wann die mich endlich zur Jagdschule schicken, dann hört es auf, derart von anderen abhängig zu sein. Immer wieder fragen müssen, bitten... G. nimmt mich zwar häufiger mit hinaus, doch da sind ja auch bei ihm noch Arbeit, Haus und Garten. Und wenn nicht bei ihm, dann kommt garantiert bei mir etwas dazwischen.
Wir glasen zum wiederholten Male die Flächen im langgestreckten Tal ab, weil die Nebelfelder sich für einen kurzen Moment verzogen haben, ideal für Sauen. Sie mögen es nicht, wenn der Mond zu hell leuchtet. Aber so ein klitzekleines bisschen heller dürfte es schon sein...
Da stößt mich G. in die Seite und zischelt: „Da!“
Mit dem Kopf weist er auf die Wiese vor uns in Richtung Straße und geht gleichzeitig tief in die Hocke. Ich tue es ihm nach, kann aber beim besten Willen nichts erkennen. Vor Anstrengung beginnen meine Augen zu tränen. Doch dann erkenne auch ich einen dunklen Fleck auf der Wiese. Man, wie kann denn G. das nur als eine Sau ausmachen? Ich hätte es für alles mögliche gehalten, nur nicht für das. Bewegt sich das Teil? Nö. Oder doch? In der Dunkelheit scheint sich gar manches "Ding" zu bewegen, wenn man angestrengt schaut. Selbst ein Busch oder Stubben kann so schnell zur vermeintlichen Wildsau mutieren.




G. legt sich auf den Bauch und kriecht allmählich vorwärts, immer in Richtung "Etwas". Ich bleibe lieber wo ich bin. Dicker Nebel hat sich wieder über die Wiese gesenkt und allmählich wird auch G. für mich nur noch eine schemenhafte Gestalt.
Plötzlich knallt es. "Peng" - es reißt mich zusammen. Ein ziemlich dumpfer, kurzer Knall, selbst die Laute werden vom Nebel verschluckt. Mit einem Mal steht mein Jagdlehrer wieder vor mir, wie ein Geist aus dem grauen Nichts erschienen.
"Verfluchter Mist", schimpft er halblaut. "Der ist weg. Das war ein Keiler."
Und wie bitte hatte er das schon wieder gesehen? Wo ich doch nicht mal die Sau als Sau wahrgenommen habe?
Mir entfährt die dusslige Frage: "Haste geschossen?" Und um die Situation zu retten: "Ähm, wo getroffen? Überhaupt?"
"Getroffen garantiert. Kennst mich ja...", grinst er.
Stimmt, er ist ein hervorragender Schütze. Und er hätte nicht abgezogen, wenn er im Zielfernrohr nicht genügend erkannt hätte.
"... aber nicht mehr gesehen, wo der hingeflüchtet ist. Bleibt nur eins, die Taschenlampe... und die ist im Auto. Holst du sie mal?"
Ich... jetzt... im fast Stockfinsteren... und irgendwo ein angeflickter Keiler... na Mahlzeit, fährt es mir durch den Kopf. Ich nehme mein letztes Restchen Mut zusammen und gehe langsam in Richtung Auto. Wo wir es abgestellt hatten wusste ich ja... dass das soooo weit war, wusste ich nicht.
Der Weg zieht sich endlos in die Länge. Bin ich eigentlich noch richtig? Ich quirle jetzt schon so lange über diese Wiese zu den Gebäuden... Mein Herz klopft. Jeden Moment rechne ich damit, dass sich mir der Keiler blasend in den Weg stellt. Jeder dunkle Fleck facht mein Herzklopfen erneut an. Endlich, endlich... ich sehe das Auto. Es ist nicht abgeschlossen, klar, macht er beim Pirschen nachts nie. Also Taschenlampe vom Rücksitz. Aber leichter wird der Rückweg dadurch nicht, denn wo bitte ist jetzt der Jäger???



Ich sehe zwar, aber auch nur, soweit der Lichtkegel der Lampe reicht. Links und rechts daneben ist nichts, lediglich dunkel, Herzklopfen also noch lange nicht adé.
Da höre ich G. rufen und ich gebe ebenfalls "Laut". Endgültig erleichtert bin ich, als ich ihn erkennen und seine Lampe in die Hand drücken kann. Eine Erleichterung nur für Sekunden, denn schon ist G. samt Taschenlampe im Nichts verschwunden. Ich bleibe erneut allein in dieser Finsternis zurück. Die Zeit verrinnt, nichts tut sich, kein Laut, und mein Herzklopfen stellt sich wieder ein. Doch da ertönt endlich, scheinbar sehr weit entfernt, der erlösende Jägerruf.
„Huup-huuuup!“
Ich setze mich in Bewegung. Der Nebel hatte die Töne gedämpft und doch gar nicht so weit wie vermutet, steht schon der Jäger... und vor ihm liegt eine Sau. Tatsächlich ein Keiler, wie unschwer am doch recht ansehnlichen Gewaff zu erkennen ist.

Tage darauf brachte mir mein Jagdlehrer G. die präparierten Waffen des Keilers, mit stilisiertem Silberlaub auf einem runden Brettchen befestigt. „Hier“, sagte er und drückte es mir in die Hand. „Als Belohnung für dein langes Zittern und Schwitzen... und als Erinnerung an deine Nachtjagd... schenke ich dir.“
Normalerweise ist so etwas nicht üblich, da er ja nicht von mir erlegt wurde. In diesem Fall nahm ich die Trophäe gerne an und freue mich noch heute darüber, erinnert es mich doch an eine aufregende Nacht.

ENDE

Text und Foto © Hildruth Sommer