So - oder so?
Rotwildgeschichten
Es heißt, es käme immer darauf an, von welcher Seite man etwas
betrachtet. Dass mir Rotwild überall vor die Flinte kam, könnte ich
also locker fluffig als glückliche Fügung werten, wenn zur Jagd nur
sie und ich gehören würden. Wäre eventuell in Kanadas Weiten, und auch
da nur begrenzt, möglich.... Nur: ich ging ja in Deutschland zur Jagd.
Sie und ich, es war trotzdem lustig. Selbst im reinen Rehwildrevier
von Max in Schottland, wo vordem keinerlei Rotwild gesichtet wurde,
gewahrte ich auf Ansitz als Erste und lange Zeit auch Einzige Rotwild.
Später konnte dann auch mein Gastgeber die wenigen Tiere fährten und
beobachten, sonst hätte man es eventuell in die Rubrik Jägerlatein
gepackt.
Schon vordem in heimatlichen Gebieten, hatte ich häufig dort Rotwild
in Anlauf, wo es bei den anderen selten bis nie passierte.
Gut oder weniger gut? Lesen Sie selber.
In meinem ersten Jungjägerjahr saß ich eines herbstlichen
Spätnachmittags auf einer Kanzel in meinem damaligen offiziellen
Lehrrevier an. Bis zur Wende, ein Jahr zuvor, war es Grenzregion
gewesen. Das hat für ruhige Einstände gesorgt. Und doch konnte mein
Lehrherr G. in all den Jahren die er dort jagte, und das waren
mindestens zwanzig, nur zwei oder drei Rotspießer erlegen. Mehr oder
auch stärkere Hirsche habe er nicht in Anblick bekommen, berichtete er
mir.
Mein Ansitz an diesem Abend lag am Fuß der, mit etwas mehr als 700
Metern, höchsten Erhebung der Region. Zu DDR-Zeiten waren die
ortsnahen Hänge des Berges bis zum Gipfel zwar zugänglich, dahinter
begann jedoch die Sperrzone. Während meiner Lehrzeit verursachte das
einige Probleme. Wollte ich zum südwestlichen und näher an der Grenze
gelegenen Teil des Revieres, war ich meistens gezwungen, die
Landstraße zu benutzen, welche aber oberhalb des Dorfes mittels
Schlagbaum abgesperrt wurde. Ich musste mich also jedes Mal bei den
Grenzposten im Wachhaus an- und abmelden. Fuhr ich auf einem kleineren
Sandweg vom Dorf aus oder gar von der Kreisstadt in das Gebiet hinein,
hatte ich das Jagdschild an der Autoscheibe anzubringen. Ein grüner
Zweig unter dem Scheibenwischer bedeutete, dass ich mich auf Ansitz
befand. Die Namen der berechtigten Jäger und Fahrzeugkennzeichen waren
registriert. Und dennoch geschah es des öfteren, dass sich plötzlich
ein Grenzer mit Hund der Leiter oder der Kanzel näherte und ich den
Ansitz abbrechen konnte, weils keinen Sinn mehr machte. Mit der
Grenzöffnung war das Vergangenheit.
An jenem Jungjäger-Septemberabend herrschte noch gutes Licht, als ich
in einer kleinen Anpflanzung neben der Wiese plötzlich einen Hirsch
mit gewaltigem Kopfschmuck entdeckte. Ich war baff. Erst recht, als
ich durchs Fernglas blickte und seinen Kopfschmuck näher betrachtete:
Ein kapitaler Sechzehnender. Der Hirsch äste in Seelenruhe, wirkte
völlig vertraut. Ich versuchte sein Alter zu schätzen und kam zum
Ergebnis, dass er „grenzwertig“ mit Tendenz zu einem "zu jung" gewesen
ist.
In den Jahren nach der Wende fielen allerdings auch solche Hirsche
leider reihenweise. Es prüfte ja kaum noch einer nach, was zur Strecke
kam, oder man hielt darüber den Mund.
Die Versuchung an diesem Abend war daher groß, obwohl ich kurz zuvor
meine ersten Hirsche bereits habe strecken können. Aber irgendwie....
Es reizte und mich beutelten gemischte Gefühle. Und so stellte ich
ziemlich schweren Herzens die Waffe wieder beiseite und verlegte mich
aufs Schauen.
Als ob er davon wusste, stand dieser Geweihte sehr lange draußen, ehe
er sich in eine nahe Dickung trollte. Ich hätte ihn zig Mal bequem und
in Ruhe erlegen können.
Als ich meinem Förster davon berichtete, meinte dieser, dass ich recht
gehandelt hätte. Ich hätte so oder so wegen eines solch Kapitalen, ob
nun das nötige Alter besitzend oder nicht, Ärger bekommen. Was er
damit meinte, merkte ich einige Jahre später.
Bei einem der weiteren Ansitze, es war Ende Mai des Folgejahres,
traten dort gleich zwei derartig starke Hirsche aus, die auch schon
sehr weit geschoben hatten. Ich sag doch: Mich rannte Rotwild schier
um.
Schreck, lass nach...
Einige Wochen darauf wollte ich im gleichen Hegegebiet noch Rehwild
erlegen, aber darauf anzusitzen war aussichtslos. Sie traten aus, wenn
es bereits finster war oder wechselten morgens bereits vor
Büchsenlicht wieder ein. Mein Förster riet mir, tagsüber zu pirschen.
Also machte ich mich an jenem Oktobertag bereits am zeitigen
Nachmittag auf den Weg und begab mich in den am höchsten gelegenen
Revierteil, denn dort herrschte Ruhe. Dem vormals zweiten Lehrherrn
und nun Mitjäger G. hatte ich natürlich berichtet, was ich an diesem
Tag plante, denn Abstimmung untereinander war wichtig. Er meinte, dass
er eh nicht auf Jagd gehen könne. Außerdem hielt er nicht viel vom
Pirschen.
Ein fester Waldweg bildete die Grenze zum Nachbarbereich und auf ihm
pirschte ich so leise wie möglich, denn von dort aus konte ich in die
Dickungen am Hang darunter hineinschauen. Ein paar möglichst
geräuschlose kleine Schritte, was natürlich durch trockenes Buchenlaub
und Kies auf dem Weg äußerst mühevoll war, stehen bleiben, mit dem
Glas von oben hinein in die Gassen und Lücken der doch schon
stellenweise hohen Dickung rechterhand schauen... Und weiter ging es,
Meter für Meter. Spannung pur. Der leichte Wind kam von vorn und blies
mir direkt ins Gesicht, strich also lediglich entlang der Reviergrenze
oder stand ins Nachbargebiet hinein.
So hatte ich etwa 200 Meter hinter mich gebracht, als ich auf einem
kleinen freien Flecken der Dickung einen auffällig großen Ameisenhügel
erblickte... der plötzlich sein Haupt hob! Mich haute es schlagartig
auf die Knie! Ein imposantes Geweih, was der sich als Hirsch
entpuppende "Hügel" da auf seinem Haupt trug. Die rechte Stange war
gegabelt, die linke wies an ihrem Ende keinerlei Gabel oder Krone auf,
sondern war nach Aug- und Mittelspross ein blankgeputzter Dolch von
über 30 Zentimetern Länge. Und was für dunkle, starke Stangen! Ein
ungerader Achter, mittelalt. Mein Herz spürte ich bis unter die
Haarspitzen pochen. An diesem Tag hatte ich allerdings nur die
Doppelflinte dabei, denn mit weiten Schussentfernungen war auf dieser
Pirsch nicht zu rechnen.
Der Hirsch stand höchstens 30 Meter von mir entfernt. Ich rutschte
sachte auf Knien weiter, um ihn breiter zu bekommen, denn er stand
sehr schräg nach vorn und tief unter mir am abschüssigen Hang. Und da
merkte ich, dass der Wind leicht drehte und in die Dickung zieht.
Jetzt musste es schnell gehen.
"Bautz!"
Der Hirsch rutschte augenblicklich in sich zusammen, aber damit auch
teilweise hinter die darunter wachsende Jungfichte mit Zweigen bis zur
Erde. Er regte sich nicht mehr. Puh, jetzt erstmal mein Jagdfieber in
den Griff bekommen... ruhig, ruhig... In dem Moment hob der Hirsch
doch tatsächlich sein Haupt, wie ich durch die Zweige hindurch noch
erkennen konnte!
Verdammt, schlecht getroffen! Ich schickte das zweite
Flintenlaufgeschoss nach, aber da bot sich mir, ohne voll auf sein
Hinterteil schießen zu müssen, aufgrund der Fichtenzweige lediglich
noch von oben sein Halsbereich als Ziel. Den zweiten Schuss hatte ich
aus dem rechten Lauf meiner Flinte verschickt, denn den genauer und
mehr zusammenhaltenden linken nachzuladen, traute ich mich nicht mehr.
Blödsinn, bei solch einem Schuss ein eindeutiger Fehler. Wieder sackte
das Haupt nach vorn und unten, aber mit diesem Ruck war er nun
gänzlich hinter die breite Fichte gerutscht.
Ich wartete. Und wartete... und war ratlos. Sollte ich hingehen und
ihn so auf die Läufe bringen, falls der zweite Schuss auch nicht
tödlich war, und dann den Fangschuss antragen? Aber was, wenn er
vorher schon nach unten flüchtete und ich durch die Jungbäume
trotzdem nicht frei zum Schuss kam? Sachte erhob ich mich aus der
unbequemen Stellung, lud nach und war fast am Verzweifeln. Falls er
doch noch am Leben war, wäre ihn in Ruhe sterben zu lassen nicht
einfach das Beste? Nur,
wo hatte ich ihn getroffen?
Ich trat den Rückweg an, zunächst so leise wie möglich, danach
rannte
ich bis zum Auto, fuhr nach Hause und rief meinen Freund, den Förster
an. Der war glücklicherweise erreichbar. Er meinte sofort: „Ich komme
raus, wo treffen wir uns?“
Am Ort des Geschehens war vom Weg aus kein Hirsch zu sehen. Der
Förster nahm meine Flinte und stieg den kleinen Abhang hinunter zur
Fichte. Dann winkte er mich zu sich. Kein Hirsch... nur rundherum eine
große Menge Schweiß. Er stieg noch weiter den Hang hinab... und da
prasselte es in der Dickung.
Das Knacken und Brechen der Zweige entfernte sich, aber kein Schuss.
Ich eilte beiden hinterher, so gut das in der Dickung am steilen Hang
überhaupt möglich war, bis zum untersten Weg und zurück zum Auto an
der Kreuzung. Dort traf ich wieder auf den Förster. Während wir die
ersten Worte wechselten, hallte ein Schuss aus Richtung Waldwiese, nur
etwa 200 Meter benachbart gelegen. Dort stand eine der Revierkanzeln.
Aber G. war doch gar nicht auf Jagd, also wer...?
Als der Förster und ich auf die Wiese traten, gewahrten wir
tatsächlich G. im rechten Altholzrand. Er hielt ein Jagdmesser in der
Hand und kniete vor dem Hirsch. Wir gingen zu ihm und er hatte uns
ebenfalls zuvor schon bemerkt, erhob sich, reichte mir unwirsch sein
Messer und sagte missgelaunt und ruppig:
„Da, ist ja dein Hirsch, dann kannst du ihn auch weiter aufbrechen“!
Mein Förster schwieg mit ernster Miene. Dann bekam G. sich aber wieder
unter Kontrolle und meinte, dass er von der Kanzel aus den flüchtigen
Hirsch im Altholz gesehen und sofort geschossen habe. Am Einschuss
hätte er erkannt, dass er zuvor mit Flintenlaufgeschoss beschossen
worden war. Nach einer Pause fügte er noch in einem sich beschwerenden
Tonfall hinzu, dass er Jahre hier schon jagen würde, aber so einen
guten Hirsch hier noch nie vors Gewehr bekommen habe. Und ich...
eigentlich gerade mal ein paar Monate in Besitz des Jagdscheins...
Der Hirsch hatte einen Nierenschuss gehabt und G. ihn mit dem guten
Fangschuss vom Leiden erlöst. Da hätten sich eigentlich zwei freuen
können, eigentlich.
Ein Jahr darauf endete meine Zeit in diesem Hegegebiet. Die Reviere
wurden verpachtet. G. war einer der neuen Pächter. Zu mir sagte er,
dass es zu viele heimische Jäger wären und da ich nicht von diesem
Dorf stammen würde, leider für mich kein Platz mehr sei. Ich hatte
nämlich selbst mitpachten wollen. No comment...
Wir trafen uns kurze Zeit danach noch einmal auf einer Drückjagd des
Forstamtes wieder. Ich führte erneut meine Doppelflinte, G. einen
Repetierer. Er hatte seinen Stand rechts vorn neben mir. Dort fiel
dann auch ein Schuss. Als die Hunde näher zu mir herankamen,
brach gegenüber ein Rotspießer aus dem Stangenholz und flüchtete
dicht rechts an mir vorbei ins hinter mir liegende Altholz. Da hatte
ich ihm aber schon meine Kugel nachgeschickt.
Zum Ende der Jagd gingen mein linker Nachbar und ich nach hinten ins
Altholz. Da lag dann auch der verendete Spießer. Weitere Jäger traten
hinzu, unter anderem G., der sich allerdings sofort als Erleger
gebarte. Ein kurzer Protest meinerseits... Nein, er hätte ihn vor mir
beschossen, er gehöre ihm. Allerdings war da nur der Einschuss des
Flintengeschosses auf dem Wildkörper zu erkennen! Keiner der anderen
Jäger widersprach oder sagte irgendwas dazu. Und viel später meinte
ein junger, damals ebenfalls in dieser Runde anwesender Förster zu
mir, dass selbst beim Aufbrechen
kein Kugeleinschuss zu sehen
gewesen wäre.
"Und warum hast du in dem Moment nicht den Mund aufgemacht?" fragte
ich ihn ziemlich empört. Er sei sich zuvor nicht sicher gewesen, gab
er zur Antwort. Hätte man doch aber nachsehen können... Ausrede.
Stammte ja auch aus dem Dorf.
Ich ließ es auf sich beruhen. G. wusste, dass er nicht der Erleger
war, und Freude kann man unter solchen Umständen als Jäger an der
Trophäe nicht haben. Ob ich ihn nun an der Wand hängen hatte oder
nicht, war mir nach dieser Begebenheit egal. Ich war ob solch eines
"Lehrers" enttäuscht, wusste allerdings, ich hatte den Hirsch zur
Strecke gebracht.
G. hatte sich eben mit der Wende zum Negativen verändert. Zuvor hatte
ich ihn als hilfsbereiten und fairen Jäger erlebt. Wie viele hatten
sich danach aber in ganz anderer Richtung gezeigt. Da war er nicht der
Einzige.
Der Achter von "daheim"
Fast zwei Jahre danach wurde es
noch makaberer für mich. Ich
war zu dieser Zeit entgeltliche Begehungsscheininhaberin im Revier
meines kleinen Wohnortes und trug anteilig die gleiche Summe Pachtgeld
wie die drei Pächter. Somit erhielt ich einen festen Hegebereich
zugewiesen, besaß freie Büchse, natürlich ebenfalls anteilig und
entsprechend der Abschussplan. Um auf Jagd gehen zu können, musste ich
endlich nicht mehr ins Auto steigen. Ich hängte mir also die
Büchse um, nahm Rucksack und Fernglas und lief ins Revier. Nur wenige
hundert Meter und ich war mittendrin.
Die Wilddichte war nicht sonderlich hoch, aber was tat es. Viele
kräuterarme, rein landwirtschaftlich genutzte Wiesen prägten leider
das Landschaftsbild, worauf nur schnell wachsendes, mageres Futtergras
wuchs. Ich verlegte mich also in der Bejagung auf gelegentlich
vorhandenes Rehwild, Sauen und Füchse, was für mich schon immer eine
äußerst spannende Jagd gewesen ist. Auf Sauen blieb ich leider auch
dort regelrecht glücklos, trotz Kirrung, trotz nächtlichen Ansitzen.
Dafür rannten mich beinahe die Schwarzen über den Haufen, wenn ich -
ohne
Waffe - mit den Kindern darin spazierenging. Als ob sie wüssten, wann
ihnen Gefahr droht und wann nicht.
Rotwild stelle in diesem Revier die absolute Ausnahme auch als
maximal durchwechselnde Wildart dar. Ich selbst hatte in den
ganzen Jahren, in denen ich dort wohnte, keins gesehen oder
gefährtet... und ich lebte schon etliche Jahre da.
Etwa Anfang August bemerkte ich tatsächlich einen Hirsch in einer
wirklich kleinen, dafür um so dichteren Dickung, an der ich gerade
erst eine neue Kanzel gebaut und aufgestellt hatte. Eigentlich konnte
ich von ihm nur die Spitzen seines Geweihs erblicken, wenn er damit in
der Dickung Birken in Bewegung brachte. Ich war der Ansicht, dass er
sich bald wieder aus dem Reviert trollen würde. Allerdings hielt ich
mich dennoch fortan abseits von dieser Kanzel, saß wenig an, und wenn,
dann nur bei absolut sicherem Wind. Man weiß ja nie und vielleicht
hatte ich ja doch Glück und er blieb mir bis zum Aufgang der
Schusszeit treu. Erzählt hatte ich vom Anblick nur dem Förster, mit
dem im Laufe der Jahre die Freundschaft noch enger geworden war, und
er vermutete, dass es einer der zahlreichen abgewechselten Hirsche
sei, die regelmäßig zur Brunft zurück in ihre Setzregionen ziehen
würden, damit gemeint das uralte Rotwildeinstandgebiet an der Saale,
dort wo auch er zur Jagd ging, ich mein erstes Rotwild strecken konnte
und mich regelmäßig während der Brunft zum Verhören aufgehalten habe.
Bei meinem ersten Septemberansitz konnte ich den Hirsch dann auch
nicht mehr entdecken. Ich ging fest davon aus, dass er bereits
weitergezogen war. In der zweiten Septemberwoche kletterte ich erneut
auf die Kanzel. Die Wiese an der Dickung war frisch gemäht worden.
Zuerst trat Rehwild aus der Dickung, ein junger Bock und eine Ricke
mit Kitz. Der Bockabschuss war bereits erfüllt, Ricke und Kitz waren
stark und kräftig. Ich wartete also auf Füchse, die gern über die
frischen Schwaden ziehen.
Und plötzlich stand ein Hirsch am Rand der Wiese!
Irre, er war tatsächlich geblieben. Die Wiese war eher ein 50 Meter
breites Wiesenband, U-förmig umschlossen von der Dickung, einer Kultur
und wenigen Baumreihen. Das schmale Wiesenband öffnete sich erst nach
rund 200 Metern zu einer großen, weiten Wiese hin. Am Ende der
schmalen Seite, in der frischen Kultur, befand sich mein Sitzplatz.
Der Hirsch stand, von mir aus betrachtet, links am obersten Ende von
Dickung und Wiesenband. So frei und bei gutem Licht war bald klar, was
er „drauf hatte“: Ein sehr schwacher (ungerader) Achter vom zweiten
oder dritten Kopf. Die Stangen besaßen kaum Auslage, ragten eng
gestellt nach oben und waren kurz. Sie besaßen eine helle Färbung. Ein
Abschusshirsch, wie er im Buche steht.
Bei dieser Entfernung musste ich allerdings gut auflegen, auch den
rechten Arm, wofür ich auf fast allen meiner Kanzeln entsprechende
Bretter liegen hatte. Das aber jetzt so rasch und vor allem so ruhig
wie möglich und günstig zu drapieren, war in dem Moment gar nicht so
einfach. Alles in allem: es klappte. Der Hirsch sprang kerzengerade
hoch, drehte sich nach dem Knall in der Luft um 180 Grad und stiebte
zurück in Richtung Dickung. Das Rehwild tat es ihm nach.
Ich nahm an, dass er getroffen in die Dickung hinein gesprungen sei,
die wahnsinnig dicht gewesen ist und von zahlreichen Brombeerbüschen
umwachsen. Darin steckten im übrigen auch die Sauen recht gern. Also
wartete ich noch einen Moment, vernahm aber keinen Ton und verließ die
Kanzel, schilderte das Erlebte telefonisch zunächst meinem
Förster-Freund, der mir ob dieses Verhaltens nach dem Schuss jedoch
wenig Hoffnung auf einen guten Treffer machte. Zwischenzeitlich hatte
es zu dunkeln begonnen, und so verschoben wir die Nachsuche mit Hund
auf den nächsten Morgen.
Wäre nicht nötig gewesen, vor allem nicht die Nacht, in der mir immer
wieder das Ereignnis in seinen Einzelheiten durch den Kopf ging. Der
Hirsch hatte es nämlich nicht mal noch bis in die Dickung hinein
geschafft. Er lag mit bestem Treffer nur etwa 50 Meter vom Anschuss
entfernt, war noch in der Baumreihe davor verendet und das gleich. Da
herrschte bei mir natürlich riesige Freude, so gut gelaufen!
Ein herrliches Erlebnis. Zum einen die Überraschung, dass er doch noch
geblieben war und nun sogar 80 Kilo Wildbret-Erlös mehr in die
gemeinsame Kasse kamen. Genau das fand auch der älteste der drei
Pächter. Er freute sich ehrlich mit mir gemeinsam.
Die anderen nicht. Die beiden jungen Pächter platzten vor Neid. Einer
ging hernach sogar abends zur Jagdzeit öfter in meinem Bereich joggen.
Die Krönung folgte später, denn diese Beiden sperrten mich letzten
Endes - mit zwei zu eins Pächter-Stimmen - für das folgende Jahr auf
jeglichen männlichen Trophäenträger. Ohne Grund, einfach nur so. Aber
zahlen sollte ich noch immer dasselbe.
Dreist und frech ist ein viel zu milder Ausdruck für dieses Verhalten.
Dummdreist, aber so waren ziemlich viele Leute in der dortigen Region.
Das alles ging natürlich nicht ohne entsprechende Kommentare des
dritten Pächters vonstatten, der natürlich die eine Gegenstimme
darstellte und beiden in meinem Beisein billigen, blanken Jagdneid
vorgehalten hatte.
Was ich tat? Nun, ich habe ihnen den Begehungsschein "vor die Füße"
geworfen. Vielleicht war das ja auch der Zweck ihrer Aktion gewesen,
denn ich war, wie sie wohl zwischenzeitlich festgestellt hatten, kein
Jäger, dem man ein X für ein U vormachen konnte. Zuvor hatte mir
nämlich einer der beiden jungen Pächter weismachen wollen, dass er
nachts auf Mondscheinjagd (genau lesen bitte!) einen Bock mit einem
Hirsch verwechselt hätte. Und Hirsche lässt man nicht ziehen.
Nachtjagd auf Rotwild? Verboten, zum einen. Der starke Bock, der dann
"aus Versehen" lag, war “einer mehr als die anderen“. Jeder
sollte nämlich nur zwei Böcke im Jagdjahr erlegen.
Mir war das alles zu blöd, denn mit solchen Leuten machte die
Jagd keinesfalls Freude. Vier Jahre nach diesem Akt zog ich von dieser
Gegend weg, wohnte dann nahe des besagten
Rotwildeinstandsgebietes, in dem ich quasi "groß geworden war". Leider
verstarb ein Jahr drauf mein guter Freund, der Förster. Am Tag seiner
Beisetzung, der gleichzeitig mein Geburtstag war, fragte man mich, ob
ich nicht in genau diesem Gebiet zukünftig mitjagen wolle. Von da an
war Rotwild dann kein „putziger“ Zufall mehr, sondern Begleiter meines
jagdlichen Alltags. Mit gemischten Gefühlen. Endlich dort, aber
ohne
den Freund, Beschützer und Mentor. Erinnerungen, egal wo ich jagte.
Und wie oft hatte ich ihn später an meine Seite gewünscht.
ENDE
Text und Fotos © Hildruth Sommer