Der Starke
Ein ungerader 20-Ender
Einen "Einser" sollte ich erlegen. Der Jagdpächter hatte die Freigabe
im sogenannten „Rennverfahren“ bekommen, und da ich zuvor dafür
gesorgt hatte, dass er sein Revier überhaupt behalten kann, erhielt
ich diesen einmaligen Abschuss als Dankeschön. Alle anderen Jäger
unserer kleinen Gruppe hatten solche Recken bereits erlegen können,
denn sie waren in diesem Rotwildrevier schon zu DDR-Zeiten auf Jagd
gegangen. Damals gab es dort noch viel solch kapitalen Rotwilds. Zu
viel sogar. Einer von ihnen hing sich derartige Trophäen aus
Platzmangel sogar in die Garage. Den Jägern nachgeworfen wurden aber
selbst zu jener Zeit solche Ausnahmehirsche nicht. Der Insider weiß,
was damit gemeint ist.
Deren Sache, wenn nicht das passiert wäre, was mir passieren sollte
und wovon ich hier nun berichte. Aber von vorn: Ein I-er oder
zumindest IIb sollte es also sein, genau genommen als eine Art Lohn,
denn das Revier für den Pächter zu erhalten, war nicht ganz so einfach
gewesen. Hinsichtlich Gruppierungen, für den Nichtjäger: Sie sagen
etwas über Trophäenstärke und Mindestalter des Hirsches aus.
Man sollte aber immer auf seinen Instinkt hören, denn mir verursachte
der geplante Abschuss von Anfang an Bauchweh. Wie groß jagdlicher Neid
sein kann, hatte ich bis dahin schon zur Genüge erlebt. Der Bauch
sollte mal wieder recht behalten.
Der Erlegung gingen zahlreiche gezielte Ansitze seitens des Pächters
und mir voraus. Es galt zu beobachten, was sich im Revier zur
Brunft alles tut. Da tat sich allerdings längere Zeit nichts,
zumindest nicht, was den Anblick eines solchen Hirsches betraf. Es
waren weitaus zu junge Hirsche, die wir zu Gesicht bekamen,
keiner passte in diese Klassen. Und so entschied der Pächter, dass
sogar meine Tochter zwecks "Aufspüren" hinzugezogen werden sollte. Sie
sollte aber nur sagen, ob "da und dort" überhaupt Rotwild kam. Wir
setzten uns an verschiedenen Stellen zur gleichen Zeit an. Selbst das
brachte uns keinen "Einser" oder IIb in Anblick.
In einem regelrechten Verzweiflungsakt des Pächters wählte dieser als
einen neuen Ansitzplatz den Rand der im Revier eigens für das Wild
eingerichteten Ruhezone. Auch das noch. Gut, er war der Pächter.
Und da zog tatsächlich bei bestem Büchsenlicht an diesem späteren
Nachmittag im September, aus unserem Rücken kommend, ein starker
Hirsch mit gewaltigem Kopfschmuck und mit nur wenigen Stücken Kahlwild
dicht an der Kanzel vorbei. Alte Hirsche haben es so an sich, dass sie
keine großen Rudel mehr führen.
Wenn etwas eintritt, worauf man wartet und hofft, aber schon nicht
mehr zu hoffen wagte, ist das erstmal ein Schreck. In diesem Moment
wagte jedenfalls keiner von uns noch zu atmen. Mein Herz machte Sätze
ob des überwältigenden Anblicks. Das machte es zwar zum einen immer,
wenn ich Rotwild sah, ob mit oder ohne Waffe, und war ein stärkerer
Hirsch darunter, fürchtete ich jedes Mal regelrecht um meine
Gesundheit, obwohl an Erlegen da gar nicht zu denken war. Nur, diesmal
war es ja anders. Diesmal sollte ich den Kapitalen....
autsch. Eine irre Situation. Für mich, für den
leidenschaftlichen Jäger und dann noch mit dieser Vorgeschichte.
Aber noch wusste ich nicht, ob mein erster Eindruck vom Pächter
bestätigt werden würde. Auch war der Hirsch regelrecht
zu nah
an mir vorübergezogen. Ich brauchte etwas Distanz. Die
Bewegungen spielten eine Rolle, die Haltung, wie sie zogen, das Haupt
hielten, wo die Läufe standen, wie sie sich verhielten, der gesamte
Körperbau und eben der gesamte Eindruck. Es rollten in den Minuten
wahre Filme hinsichtlich des Erlernten und Erprobten in meinem Kopf
ab, kam aber zu dem Ergebnis: er passte.
Der Pächter schaute ihn sich fast eine Ewigkeit lang an, obwohl das
Zeitgefühl einen in solchen Momenten gerne im Stich lässt. Ohne Glas,
mit Glas... immer wieder. Ich selbst hatte mich auf seinen gezischten
Hinweis hin „fertig gemacht“, sprich die Waffe vorsichtig
hochgenommen, aufgelegt, den rechten Ellbogen ebenfalls. Und so
wartete ich, mit dem Daumen am Spannschieber meiner Blaser
Bockbüchsflinte, beobachtete den Hirsch aber meist über das
Zielfernglas hinweg.
Hohe Brunftzeit war's. Und so erlebte ich, wie sich dieser
Prachtbursche breit stellte und schrie. Fantastisch! Unbeschreiblich,
schaurig, schön. Alles zusammen. Was für ein Bild! Dann nahm der
Starke die nicht mal 100 Meter vor uns liegende Suhle auf der schmalen
Wiese an. Er hatte die Ruhe weg. "Hm, der ist dann schlammig und
dreckig", schoss es mir durch den Kopf. Als er sich nach seinem
Schlammbad gemächlich wieder daraus erhob, schallte sein beeindruckend
schöner Ruf erneut durch den Wald. Was für ein Erlebnis!
Ich schätzte ihn auf mindestens zehn Jahre. Das Ansprechen hatte ich
noch zu Zeiten erlernt, als es in den Revieren dieser Gegend so viel
Rotwild gab, dass man sie von Weitem mit Kuhherden verwechseln konnte.
Damals, als die DDR noch bestand, durfte ich kein Jäger werden. Also
„wechselte“ ich zwei Jahre als bloße Wildliebhaberin und insgesamt
vier weitere Jahre als Jagdhelfer durch diese Reviere, bis ich nach
der Wende die Prüfung ablegen durfte.
Und es war ein strenges Regime. Der Normal-Jäger der damaligen DDR
erhielt harte Vorgaben und durchaus drastische Strafen bei jagdlichen
Vergehen, sprich Fehlansprachen. Manchmal zu drastisch, wie ich
erlebte. Aber es half. Die meisten Jäger wurden damit angehalten, ihre
Abschüsse nach Alter und Freigabe vorzunehmen. Da Wenige eine eigene
Waffe besitzen konnten, zudem die Munition sehr knapp zugeteilt wurde,
diese auch beim wöchentlichen Waffenwechsel abgerechnet werden musste,
war „schwarz“ schießen kaum unmöglich. Außerdem – wozu? Sie erhielten
ja nicht nur kostenlose Jagdgelegenheit, sondern auch in bestimmtem
Umfang Wildbret. Kritisch wurde es erst, wenn man sich doch mal vertan
hatte, das Wild falsch eingeschätzt wurde. Dann setzte es
Vortragsverpflichtungen vor den Jagdkameraden, um Wissen aufzufrischen
und war äußerst peinlich. Oder man bekam Abschuss- bzw. Jagdsperren
als Strafe. Manches war überzogen, aber vieles gerechtfertigt. Dass
die „Oberen“ und die solches anwiesen, jedoch selbst gewaltig gegen
weidmännische Grundsätze verstießen, erfuhren wir leider erst mit bzw.
nach der Wende.
Förster, Jäger und Landwirte mussten sich übrigens "zwangsweise"
vertragen. Außerdem ging sowieso alles in einen Topf. Freilich, es gab
auch zu der Zeit privilegiertere und weniger privilegierte Jäger in
den Gesellschaften und Gruppen, also "weiter unten", und das
auch hinsichtlich Verteilung der Jagdwaffen oder "beim Wild". So
herrschten auch da bereits Ungerechtigkeiten und Neid. Etliche konnten
sich erlauben, was anderen verboten war. Doch im Prinzip waren die
meisten der Jäger zufrieden. Verglichen mit dem bundesdeutschen
Reviersystem bzw. der heutigen Jagd, hatte das Wild noch Chancen und
es gar nicht mal so übel. Es sei denn, es verirrte sich in die
„wildfreie Todeszone“ der Grenze. Dort wurde geballert was das
Zeug hielt. Von Schützen, die sich zwar Jäger nannten, denen man aber
nur zu gerne damals schon diesen Namen aberkannt hätte, was dann auch
geschah.
"Wehe, wenn sie losgelassen...", denn nachdem sich die Grenzen
öffneten und die Verpachtungen bevorstanden, wurde öfter
"draufgehalten", ohne Alterstrukturen zu beachten, und damit
begründet, dass in einigen Revieren die Wilddichte zu hoch gewesen
ist. Was auch stimmte, aber ein bisschen vernünftiger und
zukunftsorientierter hätte es duchaus sein dürfen.
Altbundesbürgerjäger (tolles Wort), die das nötige Kleingeld besaßen,
konnten ebenfalls "loslegen", zusätzlich witterten die neuen
Jagdgenossen, diesmal die Eigentümer der Flächen gemeint, das große
Geld oder/und rächten sich -dort zumindest- an den früheren
Weidgenossen mit Parteibuch in der Tasche. Ihr eigenes hatten sie
rasch mal tief in der Schublade versenkt. Das Wild gehörte ja jetzt
ihnen... hollah! Auf geht's! Sie sprachen von „ihren Hirschen“. Vorher
waren es „deren“, und später auch wieder, falls sie "Schaden machten".
Auch mein Pächter war Altbundesbürger und hatte sich zu hohem Preis
diesen Teil des früheren Staatsjagdrevieres ergattert. Damals ging es
ihm finanziell gut und so konnte er sich die hohe Pacht und die
Ausgaben leisten. Er hatte aber den Jägern, die zuvor dort jagten,
Gelegenheit gegeben, unentgeltlich weiterzujagen, mit ziemlich viel
Rechten und großzügig bedacht. Allerdings brauchte er sie auch, eine
enorme Kenntnis. Als seine Firma Konkurs machen musste, war es
irgendwie Ebbe mit den "dicken Freundschaften".
„Passt“, und „beeile dich“ zischelte da der Pächter. Das Kahlwild
hatte nämlich beschlossen, in den, von uns aus gesehen linksseitig
gelegenen Hang zu wechseln. Natürlich setzte sich auch der Hirsch in
Bewegung. Viel Zeit war also nicht mehr... Ich spannte meine Waffe,
Stachel drauf und "bautz".... Mein Herz hatte sich zwischenzeitlich
wieder etwas beruhigt gehabt. Der Gewaltige ging wie ein Pfeil nach
links ins Altholz ab, welches von unserer Kanzel aus nicht mehr
einsehbar war. Die Wartezeit war lang... für mich vor allem, musste
aber sein. Mein Pächter wurde von Minute zu Minute merkwürdig
ungehalten, rechnete sogar am Ende damit, dass der Hirsch nicht mal
liegen würde, was mir alles andere als gut tat. Man, mir derart die
Freude zu vermasseln...
Dann hielt uns nichts mehr auf der Kanzel. Und siehe da, der Hirsch
lag bereits in der zweiten Baumreihe verendet, war beim Versuch, den
Hang hinauf zu flüchten zusammengebrochen und hatte sich beim Fallen
und Rutschen regelrecht um den Stamm gewickelt. Eine Fluchtdistanz von
vielleicht 50 Metern oder knapp darüber, mehr nicht. Und nun durfte
ich das prächtige Geweih auch aus der Nähe bewundern. Es berühren. Ich
war hin und weg, konnte das noch gar nicht recht realisieren.
Eine Stange besaß sieben Enden, die andere zehn, ein ungerader
Zwanzigender. Und was für Enden das waren! Die gesamte Stangenlänge
betrug über einen Meter. Sie waren dunkel und noch ziemlich reichlich
geperlt. Eins war klar: So einen Starken würde ich nie mehr erlegen
können. Mein Lebenshirsch. Er hätte freilich noch einige Jährchen für
Nachwuchs sorgen können. Aber sie nicht "auf Bestellung" in Anblick
bekommen zu haben, hieß dort noch nicht, dass es nicht genügend
starkes Rotwild in dem Revier gab. Das wussten wir Jäger dort alle,
und nicht nur jene, die in jenem jagen gehen durften. Nicht für
umsonst war es früher mal "Staatsjagdrevier" und noch davor hatten die
Herzöge von Sachsen-Coburg-Gotha in diesem Gebiet starke Hirsche
angesiedelt. Man kann heute noch die steinernen Pfosten des damaligen
Gattertores entdecken. Rotwild mit langer Tradition. Eine Population,
die es in sich hatte.
Und einer dieser, schon von jeher starken Hirsche, lag nun vor mir.
Bis dahin hatte ich dort nur Rehe und Füchse sowie einen Rotspießer
erlegt.... in der Zeit
ohne meinen Mentor. An ihn musste
ich in dem Moment denken. An ihn, der mich zur Jagd gebracht, lange
Jahre jagdlich unter seine Fittiche genommen und mir als anerkannter
Rotwildfachmann so vieles beigebracht hatte. An ihn, meinen Freund,
den Förster, der drei Jahre nun schon nicht mehr unter uns
weilte, dachte ich auch in den darauffolgenden Tagen sehr oft.
Was er wohl zu diesem Jagderfolg gesagt hätte? Sicher hätte er
sich mit mir gefreut, so wie damals schon, als ich bei ihm und mit ihm
zwei schwächere Rothische erlegen durfte. Zahllose Stunden, herrliche
Ansitze und großartige Anblicke waren mir durch ihn vergönnt gewesen.
Wissensmäßig hatte er mich gar manches Mal durch die Mangel gedreht.
Die hirschgerechten Zeichen konnte ich im Traum herbeten.
Garantiert nicht gefallen hätte ihm das, was
nach der
Erlegung passierte. Hätte er noch gelebt, wäre mir das sicher
auch erspart geblieben. Mein Hirsch schied nämlich die Geister. Der
"Systemrelevante" mit den Geweihen in der Garage meinte glatt, dass
ich ihn noch gar nicht verdient gehabt hätte, noch Jahre hätte warten
müssen, bis ich "dran gewesen sei", kritisierte damit natürlich damit
auch den Pächter, bei dem er jahrelang kostenlos jagen durfte. Die
Missgunst sprang ihm förmlich aus dem Äser. Des "Relevanten" Bruder,
Vorsitzender der Jagdgenossenschaft, beglückwünschte mich und warf dem
Bruder generelle Missgunst vor, halt einen miesen Charakter.
Einer meiner ehemaligen Lehrer der Jagdschule, bekannt geworden durch
Fachbücher, sagte mir danach bei seinem Besuch, dass es leider "für
einige Leute schlimmer sei, wenn ein Hirsch stirbt, als wenn ein
Mensch stirbt.“ Er hielt für ungerechtfertigt, was sich einige Zeit
nach der Erlegung des Starken zur alljährlichen Hegeschau
ereignete. Ein weiterer Jäger, der ebenfalls unter dem
Pächter in diesem Revier jagen durfte, sowie noch ein paar andere
"Weidgenossen" stuften meinen Hirsch als zu jung und damit als
Fehlabschuss (IIa) ein. Ich erhielt die höchste Bußgeldandrohung, die
ein Fachmann eines wildbiologischen Instituts jemals in Deutschland
erlebt hatte, wie dieser sich später mir gegenüber äußerte. 3000 DM
sollte ich zahlen. Übrigens - 4000 DM hatte derjenige als "Strafe"
auferlegt bekommen, der einem jungen Förster schuldhaft auf der Straße
das Leben nahm... Mein früherer Lehrer der Jagdschule hatte es auf den
Punkt getroffen.
Der Unterkiefer meines starken Hirsches wurde im erwähnten
Fachinstitut untersucht und ergab den "erforderlichen zehnten Kopf“.
Möglicherweise sogar noch ein Jahr älter, wie man sagte. Alt genug, um
kein Fehlabschuss und somit ein "echter Einser" zu sein. Und
obendrein: Der Hirsch hätte als Kalb eine Kennzeichnung erhalten
müssen, um ihn altersmäßig „exakt identifizieren“ zu können, hatte der
Wildbiologe damals ergänzt. Außerdem wäre es kaum möglich, rein
optisch ganz genau... und das ginge auch erfahreneren Jägern so.
Das Bußgeldverfahren war nach einiger Zeit Nervenkrieg erledigt, mit
positvem Ausgang für mich, meine Einstellung zu den dortigen Jägern
war es nicht. Zuvor ein gutes Team... so lange ich "bescheiden
blieb". Es verhagelte mir jede Freude, dort noch weiterzujagen.
Für einige Jahre fand ich in Schottland bei einem anderen Freund meine
innere Ruhe wieder, durfte angenehm und sauber jagen und die Natur
erleben, bis er leider ebenfalls starb. Zwischendrin wechselte
ich auch anderweitig mein Revier, wohnortmäßig gemeint.
Der Starke hängt selbstverständlich an der Wand, mit Ehrenplatz. Die
Bronzemedaille, die er punktemäßig erhalten hätte, habe ich freilich
nie bekommen.
Außer diesen Fotos weiter oben gibt es leider keine, nur noch eine
kurze Filmsequenz. Draußen hatten wir keinen Fotoapparat dabei und als
der Hirsch in jenen Septembertagen abtransportiert wurde, war es schon
finster und der Hirsch bereits auf dem Hänger. Der Pächter drängte
zeitlich. Übrigens: Mein schottischer Freund drapierte jeden Hirsch
seiner Gäste mit Bruch im Äser angemessen, um ein ordentliches
Erinnerungsfoto zu machen. Gerade bei solch einem "Lebenshirsch" hatte
ich es auch erwartet. Der Pächter unternahm nicht mal den Ansatz.
Ich halte es für bescheuert, das Haupt in die Kamera halten zu müssen,
aber was blieb mir weiter übrig. Und irgendwie wäre das richtige Bild
auch noch mal eine Reminiszenz an das Leben des Hirsches gewesen.
Und so passte es auch, dass ich den nachfolgenden Kampf um den Hirsch
hab allein austragen müssen. Der Pächter war im Ausland und kümmerte
sich um sich selbst.
Solche und Solche, oft halt mehr Solche als Solche.
ENDE
Text und Foto © Hildruth Sommer